Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
tief in ihrem Innern den Wunsch hegten, geschnappt zu werden. Er würde Anne Coburn fragen, was sie darüber dachte, wenn er sie das nächste Mal sah. Sollte sich diese Gelegenheit eher früher als später ergeben, würde er sich sicher nicht beschweren.
Thorne fuhr auf den Parkplatz und machte die Musik aus. Er blickte zu dem schmutzig braunen Gebäude hinauf, in dem Backhand seine Heimstatt gefunden hatte. Vor Monaten war beschlossen worden, die alte Polizeistation auf der Edgware Road zu schließen, die nun fast leer stand, doch die freien Büros in den oberen Stockwerken waren für die Sonderkommission Backhand wie geschaffen. Wie geschaffen für die Glücklichen, die nicht jeden Tag dort arbeiten mussten. Ein monströses Großraumbüro – ein riesiges Aquarium für die kleinen Fische und ein paar kleinere für die größeren Fische.
Einen Moment lang hatte er große Angst, hineinzugehen. Er stieg aus dem Wagen und lehnte sich gegen die Motorhaube, bis er sich beruhigt hatte.
Während er zum Eingang schlenderte, traf er eine Entscheidung. Er würde nicht zulassen, dass jemand ein Bild von Alison an die Wand hängte.
Vierzehn Stunden später fuhr Thorne nach Hause und rief seinen Vater an. Sie sprachen so oft miteinander, wie Thorne es einrichten konnte, sahen sich aber selten. Jim und Maureen Thorne waren vor zehn Jahren von North London nach St. Alban’s gezogen, doch seit dem Tod seiner Mutter spürte Thorne, wie der Abstand zwischen ihm und seinem Vater ständig größer wurde. Nun waren beide allein, und ihre Telefongespräche waren entsetzlich trivial. Sein Vater war immer scharf darauf, ihm schmutzige Witze oder Pubgeschichten zu erzählen, und Thorne hörte sie sich tatsächlich gerne an. Es gefiel ihm, wenn ihn sein Vater zum Lachen brachte – es gefiel ihm, wenn er ihn lachen hörte. Thorne war sich sicher, dass sein Vater ansonsten ziemlich selten lachte. Sein Vater wusste verdammt gut, wie wenig er lachte.
»Bevor ich auflege, hier noch ein Witz, Tom.«
»Schieß los, Dad.«
»Was hat einen zwei Zentimeter langen Schwanz, der nach unten hängt?«
»Weiß ich nicht.«
»Eine Fledermaus.«
Das schien nicht sein bester Witz zu werden.
»Was hat einen zwanzig Zentimeter langen Schwanz, der nach oben hängt?«
»Keine Ahnung.«
Sein Vater legte den Hörer auf.
Er setzte sich hin und schwieg für ein paar Minuten. Dann fing er an, leise zu sprechen. »Vielleicht war der Brief an der Windschutzscheibe etwas zu … wichtigtuerisch. Das ist nicht meine Art, wirklich. Ich gehöre nicht zu dieser Sorte von Menschen. Ich denke, ich wollte nur sagen, dass es mir wegen der anderen Frauen Leid tut. Nun, wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ein Teil von mir einfach nur prahlen wollte. Und ich denke, Thorne ist ein Mensch, mit dem ich reden kann. Er scheint jemand zu sein, der verstehen wird, wie stolz ich bin, dass ich die Sache richtig hinbekommen habe. Perfektion ist alles, oder nicht? Wurde mir das nicht beigebracht? Das kannst du mir glauben. Ich bin gut erzogen worden.
Ich meine, es war mühsam, und ich sage nicht, dass mir keine weiteren Fehler unterlaufen werden, aber was ich tue, gibt mir das Recht auf Misserfolge, meinst du nicht? Diese … Frustration, die ich spüre, hat damit zu tun, dass ich mir nur vorstellen kann, wie gut es sich mit den Geräten anfühlt. Sauber und sicher. Frei, um sich entspannen zu können und die Gedanken umherschweifen zu lassen. Kein Chaos. Und wenn ich stolz darauf bin, dass ich einen Körper von der Tyrannei des Kleinlichen und des Ekelhaften befreit habe, kann ich doch dafür mit Sicherheit nicht bestraft werden. Es ist die einzig wirkliche Freiheit, für die es sich zu kämpfen lohnt. Freiheit von unseren schwerfälligen Bewegungen. Von unserer … Empfindlichkeit. Um von unserer Eintönigkeit und unserem Alltag erlöst zu werden. Genährt und sauber. Überwacht und versorgt. Während unsere ekelhaften Körpersäfte beseitigt werden. Und vor allem, um zu wissen. Um sich dieser Wunder bewusst zu werden, während sie geschehen. Was weiß eine Leiche davon, dass sie gewaschen wird? Diese Dinge zu wissen und zu fühlen muss wunderbar sein.
Du meine Güte, was denke ich mir nur dabei? Es tut mir Leid. Ich sollte dir das gar nicht erzählen. Meinst du nicht auch, Alison?«
Sue und Kelly von der Kinderklinik haben mich gestern besucht. Meine Sehfähigkeit hat sich schon deutlich verbessert. Ich konnte erkennen, dass Sue ihren Eyeliner wie
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