Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
brauchte, sie so weit zu schärfen, dass er seine Opfer damit lähmen konnte? Kann ich mir nicht vorstellen. Wirklich nicht …«
Der Mann in dem Sessel trug wie immer einen schwarzen Kapuzenpulli und eine schwarze Baggyhose. Ein Assortiment von Ringen und Piercings schmückte seine Ohren, und der Knopf an seiner Unterlippe bewegte sich mit seiner Zunge. Dr. Phil Hendricks war Pathologe und arbeitete eng mit Thornes Team zusammen. Und für Thorne kam er dem, was man einen Busenfreund nennt, am nächsten. Gewaltsame Tode und was danach kam hatten sie einander nahe gebracht.
Hendricks war sofort in ein Taxi gestiegen und zu der Wohnung in Kentish Town gefahren, als Thorne anrief.
Nun wartete er ab, bis er sicher war, dass Thorne Dampf abgelassen hatte. »Schläfst du gut?«, fragte er dann.
Thorne hatte aufgehört, auf und ab zu gehen, und sich auf die Sofalehne gesetzt. »Mache ich einen müden Eindruck?«
»Du klingst … aufgedreht. Ist ja auch nachvollziehbar.«
Thorne sprang erneut auf und lief zum Kamin. »Verschon mich bloß mit dieser Gesenkte-Stimme-Nummer, Phil. Als ob ich krank wär oder was. Es stimmt, was ich sage.«
»Ich bin mir sicher, dass du Recht hast. Ich kann das nur nicht so beurteilen.«
»Alles ist anders.«
»Vielleicht liegt es daran, dass du anders bist …«
»Glaub mir, Kumpel, dieser Job ist am Arsch. Manchmal hab ich das Gefühl, ich arbeite in einer Bank. In der Scheiß-City!«
»Wie lief es mit Jesmond?«
Thorne holte tief Luft, legte die Hand auf seinen Brustkorb und beobachtete, wie sie sich bewegte. Einmal, zweimal, dreimal …
»Ich musste mir einen Vortrag anhören«, erklärte er. »Offenbar sei meine Toleranz gegenüber unnötigem Ballast wesentlich geringer.«
Eine Menge hatte sich geändert …
Hendricks rutschte in seinem Sessel herum und öffnete den Mund, um etwas zu sagen …
»Ballast«, sagte Thorne und sprach das Wort aus, als sei es ein Fremdwort. »Und das von ihm. Diesem bornierten Wichser!«
»Okay, das stimmt ja alles … aber vielleicht wächst dir die Arbeit wirklich über den Kopf. Was meinst du? Jetzt komm schon, im Augenblick bringst du’s nicht wirklich in der Arbeit, in keinem Bereich.«
»Genau, und warum wohl? Was habe ich dir gerade lang und breit versucht zu erklären?«
»Du hast mir gar nichts erklärt. Du hast mich angebrüllt. Und in Wirklichkeit suchst du nur nach Entschuldigungen. Ich steh auf deiner Seite, Tom, aber du musst dich ein paar Tatsachen stellen. Du hältst dich entweder vollkommen raus, oder du führst dich auf wie ein Vollidiot. So oder so stößt du die Leute vor den Kopf. Noch mehr vor den Kopf »Welche Leute?«
Jetzt gab es kein Zurück mehr. »Du warst noch nicht so weit, wieder zu arbeiten«, sagte Hendricks mit gesenkter Stimme.
»Quatsch.«
»Du bist zu früh zurück …«
Es war noch keine neun Wochen her, dass Thornes Vater bei einem Hausbrand ums Leben gekommen war. Jim Thorne war an Alzheimer erkrankt gewesen, im fortgeschrittenen Stadium. Höchstwahrscheinlich war das Feuer ein Unfall, das Versagen einer Synapse. Die Folge einer tragischen Vergesslichkeit.
Aber sicher war das nicht, denn Thorne arbeitete damals an einem Fall, in den eine Reihe mächtiger Mafiabosse verwickelt waren. Es war denkbar, dass einer von ihnen – ein ganz bestimmter – beschlossen hatte, Thorne zu treffen, indem er den Menschen beseitigte, der ihm am nächsten stand. Ihm damit einen Schmerz zufügte, der ihm länger zu schaffen machen würde als eine Schuss- oder Stichwunde.
Nichts war sicher …
Thorne musste mit einer Menge Dinge klarkommen, darunter auch mit der Tatsache, dass er vielleicht nie Gewissheit haben würde, ob sein Vater nicht umgebracht wurde. Was auch immer passiert war, Thorne wusste, es war seine Schuld.
»Ich hätte ihn früher besucht, wenn ich gekonnt hätte«, sagte Thorne. »Ich wollte ihn an dem Tag besuchen, an dem er beerdigt wurde. Was soll ich denn machen?«
Hendricks stand mit einem Ruck auf. »Magst du eine Tasse Tee?«
Thorne nickte und wandte sich zum Kamin. Er lehnte sich gegen das hölzerne Kaminsims und musterte sein Konterfei in dem Spiegel darüber. »Detective Chief Superintendent Jesmond spielt mit dem Gedanken, mir ein paar Wochen Urlaub zum ›Gärtnern‹ zu verordnen«, stieß er hervor.
Als er an diesem Nachmittag vor Trevor Jesmonds Schreibtisch stand, hatte Thorne das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube zu erhalten. Er kostete ihn Kraft, etwas wie ein Lächeln
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