Tonio
einverstanden sein, wenn ich Jenny hier das letzte Wort lasse.
Jenny hatte gefragt, ob sie, bevor sie nach Hause ging, kurz Tonios Zimmer sehen dürfe. »Natürlich, geh nur.« Ich verstand es. Dort hatte sich der größte Teil der Fotosession abgespielt. Mirjam bot an, mitzugehen, aber Jenny wollte lieber allein sein.
»Ich kenne den Weg.«
Wir hörten, wie sie mit leisen Schritten die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg – und dann wurde es still. Keine knarrenden Schritte auf dem Parkett über unserem Kopf, wie wir es bis vor zwei Jahren von Tonio gewöhnt gewesen waren. Nein, nachdrückliche Stille, sonst nichts.
Jenny blieb lange weg. Mirjam und ich hatten einander schon ein paarmal angesehen, ohne etwas zu sagen. Wir dachten dasselbe. Lieber Gott, erst das Mädchen aus dem Haus, dann konnten wir uns ungehemmt unseren Tränen hingeben. Es war uns nicht ausreichend bewußt gewesen: So ein kurzer Einblick in eine frische Romanze war das Schrecklichste, was uns passieren konnte, gerade weil bis in alle Ewigkeit keine Weiterentwicklung möglich war.
Jenny kam nicht zurück und machte oben auch keinerlei Geräusch.
»Vielleicht ist sie schon leise gegangen«, sagte Mirjam. »Hast du die Zwischentür unten gehört? Die schließt nicht mehr richtig in letzter Zeit. Wenn die Haustür zufällt, klappert sie.«
»Ich habe nichts gehört«, sagte ich. »Sie muß noch oben sein.«
Wir flüsterten.
»Soll ich mal nachschauen?« fragte Mirjam.
»Ich horch mal an der Treppe.«
Mit angehaltenem Atem ging ich auf den Flur. Ich lauschte. Nichts zu hören. Selbst wenn ich mich auf eine der unteren Stufen stellte, konnte ich wegen der Biegung der Treppe nicht sehen, was auf dem Flur im zweiten Stock vor sich ging. Im schwachen Licht einer Wandlampe dort oben bewegte sich nichts, nicht einmal ein Schatten. Aus Angst, etwas ganz Persönliches zu stören, wagte ich nicht, weiter hinaufzugehen. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen.
Ich ging leise die andere Treppe nach unten, in die Diele, wo die Katzen ihre Balgerei auf dem Marmorfußboden einstellten und mich neugierig ansahen. Damit sie nicht entwischten, schloß ich die Glaszwischentür so sorgfältig wie möglich. So war ich früher unbemerkt ins Welling geschlichen, doch das war nicht mehr nötig. Ich drehte das Schloß in eine Position, daß die Haustür nicht zufallen konnte, und ging zwischen den parkenden Autos rückwärts ein Stück auf die Straße, weit genug, um Tonios Zimmer sehen zu können.
Die Vorhänge waren offen. Es brannte kein Licht. Nur von rechts, wo sich die Tür zum Flur befand, fiel ein äußerst schwacher Schein ins Zimmer. Ich wartete darauf, eine Bewegung zu bemerken. Ein paarmal mußte ich wieder einige Schritte nach vorn tun, zu den Parkflächen hin, damit die Autos vorbeifahren konnten. Gleich würde das Concertgebouw seine Türen öffnen, weshalb viele Fahrzeuge hier auf der Suche nach einem Parkplatz ihre Runden drehten.
Oben passierte nichts, also ging ich wieder hinein. Die Katzen hatten es sich in der Treppenbiegung gemütlich gemacht, als ob sie hier auf mich warteten: Gleich darauf rannten sie vor mir her ins Wohnzimmer, wo Mirjam auf der Couch gegen einen Weinkrampf kämpfte.
»Oben brennt kein Licht«, sagte ich.
Wir saßen schweigend nebeneinander und harrten ergeben der Dinge, die da kommen würden. Die Gläser waren leer, aber ich bat nicht um mehr. Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe leise Schritte auf der Treppe zu hören waren, unddas nur, weil ich die Wohnzimmertür nicht ganz geschlossen hatte. Es klopfte zögernd.
»Ja, Jenny?«
»Ich wollte mich noch schnell verabschieden.«
Jenny umarmte Mirjam und danach mich. Sie hatte kein rot verheultes Gesicht, aber die unteren Wimpern klebten feucht zusammen.
»Hast du den Lichtschalter gefunden?« fragte ich, nur um etwas zu sagen.
»Oh, ich war gar nicht drin.« Sie sagte es leicht erschrocken, als fürchte sie, ich würde sie der Entweihung verdächtigen. »Die Tür war auf. Ich habe eine ganze Weile vor der Schwelle zu seinem Zimmer gestanden. So habe ich Abschied von ihm genommen.« Und als sie uns schon fast den Rücken zugekehrt hatte: »Ja, ich glaube wirklich, daß die Toten eine bestimmte Energie für uns zurücklassen.«
Amsterdam, Juni 2010 - März 2011
Nachbemerkung
Dieses Requiem basiert zum Teil auf meinen Tagebuchaufzeichnungen, von denen einige in ihrer ursprünglichen Form in Engelsdreck (2006) und Hier viel Van Gogh flauw (2004) (Hier fiel
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