Tonio
Vergangenheit der Hauptfigur, sofern gut gewählt, genügen, um deren gesamte Kindheit und Jugend heraufzubeschwören. Diese Tonio gewidmete Schrift wäre erst vollständig, wenn ich in ihr alle meine Erinnerungen an ihn festhalten könnte, die mir lieben wie die unliebsamen, und möglichst auch noch die Dritter, die ich dazu befragt habe. Der Verlust macht unersättlich. Um das unmögliche Verlangen nach Vollständigkeit zu bekämpfen, habe ich dem Gedächtnis assoziativ freien Lauf gelassen. Das auf diese Weise zusammengetragene Material habe ich in einer Struktur untergebracht, die in etwa der eines Romans gleicht, in der Hoffnung, Tonio möge trotz der Lücken so vielseitig wie möglich daraus erstehen.
Ich stieß auf eine Tagebuchnotiz vom Sommer ‘99, als wir drei zum drittenmal (für Mirjam und Tonio war es das vierte Mal) in Marsalès Urlaub machten. Das Datum: Mittwoch, 11. August 1999. Ich übernehme die Passage hier nicht wortwörtlich aus meinem Tagebuch, sondern erweitere sie, um möglichst tief in die beschriebene Situation einzutauchen.
Am vergangenen Wochenende haben wir in der Corrèze Verleger Dick Gubbels und seine Frau Elly besucht, und nach unserer Rückkehr nach Marsalès begann unsere letzte Urlaubswoche. Am Morgen des elften August sitzen wir drei draußen vor dem gemieteten Haus, das wir nur dazu benutzen, darin zu schlafen und ab und an Unterschlupf vor den beängstigenden Gewittern der Dordogne zu suchen. Das Grundstück ist von einer hohen Hecke umgeben, doch die Sonne ist längst über sie hinweggestiegen. Mirjam und Tonio liegen auf Plastikgartenliegen, während ich am stählernenBürotisch sitze, der von der Vermieterin eigens für mich dort hingestellt wurde: ein Rahmen in absplitterndem Armeegrün und die Platte mit grauem Linoleum belegt, in dem so viel mit Federmessern herumgeschnitten worden ist, daß es, mit Druckerschwärze bestrichen und auf ein ebenso großes Blatt Papier gepreßt, zweifellos einen barocken Linoldruck ergeben würde. Ich schreibe auf einer tragbaren elektrischen Schreibmaschine, die über ein langes, als Schutz gegen Nagetiere extra dickes Kabel aus dem Haus gespeist wird. Da sich meine zwanghaften Angewohnheiten auch während des Urlaubs nicht einschränken lassen, mache ich Notizen für eines meiner Bücher in Arbeit. Hauptfigur Movo wird im Brandwundenzentrum Beverwijk gepflegt, in das er eingeliefert wurde, nachdem er bei einem Selbstverstümmelungsversuch sein Gesicht in einen Topf mit glühendem Fritierfett getaucht hat. Auch da ist es der Morgen des elften August 1999, und es geht auf elf Uhr zu. Im Krankenhausgarten sitzt Movo, bewacht von einer Schwester, und wartet auf die Sonnenfinsternis. Um ihn herum sitzen die Opfer eines Feuers, das vor kurzem die Amsterdamer Discothek Roxy in Schutt und Asche legte. Nach der Beerdigung des Feuerkünstlers Peter Giele war das Gebäude durch das Abbrennen eines Feuerwerks in lichterlohen Flammen aufgegangen. Movo, der bereits seit Ende April in Beverwijk ist und sich einer Gesichtsoperation nach der anderen unterzieht, erinnert sich an die tumultuarische Ankunft der Rettungswagen aus Amsterdam.
Mein Arbeitstisch steht im Schatten einer dichten Baumkrone. Mirjams und Tonios Liegestühle befinden sich in der vollen Sonne, die jetzt, kurz vor elf, gerade noch erträglich ist. Mirjam liest ein Buch von Patricia Highsmith. Ich kann von hier aus den Umschlag nicht sehen, vermute aber, daß es sich um einen Band aus der Ripley-Serie handelt. Tonio sitzt unbeweglich, mit hochgezogenen Knien, an die Rückenlehne der Liege gelehnt. Von Zeit zu Zeit setzt er die aus Kartonangefertigte Sonnenfinsternisbrille auf, die er im Campingladen gekauft hat. Die Gläser sind aus grünem Glimmer oder einfach aus Plastik. Er schaut kurz in die Sonne und setzt die Brille dann wieder ab. Sein Gesicht verrät keine Ungeduld. Es ist eher gelassen.
Die Roxy-Opfer rings um Movo tragen alle eine Sonnenfinsternisbrille. Bei manchen steckt ein Bügel in dem Verbandsmull, mit dem ihr Kopf bandagiert ist. Die Krankenschwester fragt Movo, ob sie ihm am Kiosk in der Eingangshalle nicht auch so eine Brille kaufen soll.
»Was gibt es an meinen Augen denn noch zu schützen? Ich bin so gut wie blind. Na ja, zu drei Vierteln. So werde ich, und zwar ohne so eine alberne Brille, die Sonnenfinsternis um so besser wahrnehmen können.«
In de Volkskrant (ebenfalls im Campingladen erhältlich) vom sechsten August stand eine Zeittabelle,
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