Tonio
Superstars eine Rolle in ihren Filmen an?«
Mit einem Blick, der sagte: »Denk mal drüber nach«, stieg er vom Hometrainer. Er zog ein Duschhandtuch und einen Waschlappen aus dem Schrank und verschwand ins Bad – wo ich später nicht auf dem Wannen-, sondern auf dem Waschbeckenrand den nassen Lappen, gesättigt mit schäumendem Duschgel, finden sollte. Ich blieb mit der Frage im Bett liegen, ob ich in Zukunft jeden Coen-Film als eine Art Müllzerstampfer oder Papiershredder für die Vernichtung von Mainstream-Starreputationen betrachten mußte.
Ich hatte an diesem Morgen auf dem Hometrainer schon längere Zeit Tonios imaginären Platz eingenommen, als Mirjam ins Schlafzimmer kam. Es war zu erkennen, daß sie geweint hatte – nicht heftig, nicht lange, aber doch merkbar, wenngleich ich schwer hätte sagen können, woran. Ich war seit gut dreißig Jahren mit ihr zusammen, und in diesen drei Jahrzehnten hatten wir innerhäuslich reichlich Tränen vergossen, ich weniger als sie, nie jedoch mehr als in den letzten drei Monaten. Ich könnte allmählich eine kleine Enzyklopädie aller Formen des Weinens inklusive Intensitätsabstufungen zusammenstellen, zu denen der Tod eines Kindes führen kann. Auch mein eigenes inneres Weinen ließ sich wieder unterteilen, zumindest in rinnend und strömend.
»Ich mußte gerade daran denken … mein Vater ist jetzt siebenundneunzig«, sagte sie, und ihre Augen schimmerten schon wieder. »Ich bin fünfzig. Ich ähnele ihm. Angenommen, ich werde auch siebenundneunzig oder sogar noch etwas älter … dann muß ich noch siebenundvierzig Jahre ohne Tonio weiterleben. Ein halbes Jahrhundert. Das ist doch ein unerträglicher Gedanke, oder?«
Meine Beine waren zum Stillstand gekommen, aber ich blieb auf dem Gerät sitzen. Ich legte meine Hand seitlich an ihr Gesicht. »Minchen, was hatten wir denn beschlossen? Uns nicht gegen den Kummer um Tonio zu wehren. Mehr noch, wir wollten den Nerv blank und den Schmerz am liebsten noch schlimmer werden lassen, weil er unsere letzte Verbindung zu Tonio ist. Wenn wir ihn nur so, über diesen schneidenden Schmerz, am Leben erhalten können, dann müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, möglichst alt zu werden. Wir dürfen nicht zu früh durch den Tod von unserem Schmerz abgeschnitten werden, denn damit ist Tonios Fortbestehen nicht gedient. Sterben betäubt, weißt du, und zwar für immer. Betrachte den Schmerz als die ewige Flamme auf Tonios Grab. Irgendwann wird sie bestimmt ausgeblasen werden. In einem halben Jahrhundert, das ist immer noch früh genug. Abgemacht?«
Mirjam nickte, lächelte, trocknete sich das Gesicht.
»Dann müssen wir aber wie der Blitz mit dem Saufen aufhören«, sagte sie. »Was hältst du von einem offiziell letzten Glas heute abend? Wirklich so, daß wir beim Zubettgehen sagen können … ähm … fertig, aus, das reicht. Es schmeckt mir übrigens gar nicht mehr.«
»Gut, ein letzter Trunk … auf unsere Lebenserwartung.«
»Auf die Lebenserwartung von uns dreien.«
4
(Tagebuchnotiz von Mittwoch, dem 19. Mai 1999)
20:00 Tonio zu Hause. Betrachte ihn verstohlen, wie er, in seinem armeegrünen Outfit auf dem Boden kniend, spielt: strotzend vor Gesundheit. Er geht mit mir um 20:30 in den dritten Stock hoch und liest noch auf meinem Sofa. Später steht er leise auf, um mich nicht zu stören. Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn um den langen Sortiertisch herumgehen. Er inspiziert die nebeneinanderliegenden Kapitel des Manuskripts. Hier und da liest er die Zusammenfassung auf dem obersten Blatt.
»Hier steht: ›Movo im Brandwundenzentrum.‹ Warum ist Movo im Brandwundenzentrum?«
»Er hat seinen Kopf in einen Topf mit glühendheißem Fritierfett gesteckt.«
»Oh. Warum?«
»Um sich selbst zu bestrafen.«
»Oh. Wofür?«
»Für die schrecklichen Dinge, die er getan hat.«
»Ja, aber hier steht, daß er zwölf Jahre Gefängnis bekommt.« (Lacht.) »Dann braucht man sich doch nicht mehr selbst zu bestrafen …«
»Er bestraft sich für andere Dinge als der Richter.«
»Oh. Warum kommt er nach acht Jahren schon wieder frei? Das steht hier.«
»So ist das in den Niederlanden. Bei guter Führung muß man nur zwei Drittel der Strafe absitzen.«
»Oh.« Er küßt mich dreimal, geht dann ins Bett. »Arbeite brav, hörst du?«
5
Ich habe lange nach einer Erinnerung an Tonio gesucht, mit der ich dieses Requiem abschließen könnte.
In einem Werk der Fiktion können einige Rückblicke auf die
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