Tonio
geschleppt, so daß ich genügend Tageslicht habe, um während des Strampelns die Zeitung zu lesen. Das Gerät ist auf höchsten Widerstand eingestellt. Beim letztenmal, im Mai,als ich darauf saß, empfand ich das als ziemlich leicht. Jetzt scheinen die Pedale eingerostet und schwerer zu bewegen zu sein. Es sind die Gelenke, die nach meinem monatelangen reglosen Brüten krachend zu versteifen drohen.
Um nicht auf die Anzeige schauen zu müssen, lege ich die Zeitung über den Lenker. Ich konzentriere mich auf meine unwilligen Beine. Jede Umdrehung der Pedale ist eine – auf dem Weg zur Genesung. Demnächst die Trockenlegung in Angriff nehmen. Mein Gehirn ist längst immun geworden gegen die schmerzstillende Wirkung des Alkohols. Alkohol ist wieder das, was er immer war: ein lähmender Rauscherzeuger. Mit dem Unterschied, daß sein Konsum den Schmerz über den Verlust manchmal sogar noch heftiger macht. Die Kummervariante des bösen Rausches.
Flächenmäßig gesehen, braucht kein großes Gebiet trockengelegt zu werden: die beiden großen Sitzkissen der durchgesessenen Wohnzimmercouch und die Platte (40 x 40 cm) des Beistelltischs, die durch eine Spezialkonstruktion so herangeschoben werden kann, daß sie den Couchplatz teilt. Wenn ich das Trinken aufgebe, dann in erster Linie, um Mirjam nicht länger mitzuziehen. Sie klagt immer häufiger über ein Brennen in der Speiseröhre nach dem Genuß ihres Lieblingskräuterwodkas. Zwei Gläser, mit Orangensaft verdünnt, das geht, doch danach schmeckt der Saft selbst der süßesten Apfelsine bitter. Dann lieber wieder pur, mit höchstens einem Eiswürfel.
Im übrigen mag ich diesen Beistelltisch, so praktisch er nach dem Kauf schien, allmählich nicht mehr. Das Furnier, das der Platte den Anschein von massiver Eiche gegeben hatte, löst sich und zerbröselt langsam unter den Ringen von verschüttetem Hochprozentigem, doch das schlimmste ist, daß es durch diese Spezialfunktion einen störenden Puffer zwischen Mirjams Kummer und meinem Trost sowie meinem Kummer und ihrem Trost bildet. Wenn wir trotzdem in einer ohnmächtigen Geste der Unterstützung die Hand zumanderen ausstrecken, droht jedesmal eine Flasche oder ein Glas umzukippen.
Weg also mit diesem Servierwagen ohne Räder, diesem klirrenden Zeugen unseres tiefsten Todesekels – und in einem Aufwasch auch gleich mit allen Flaschen.
In meinen strampelnden Beinen entwickeln sich schon bald Muskelschmerzen, die einen Tag nach stundenlangem Laufen eher am Platz wären. Außerdem drängt sich, fast lähmend, das Bild Tonios auf ebendiesem Hometrainer auf. Er hat unten eine Tasche mit schmutziger Wäsche hingestellt und will die Gelegenheit nutzen, mal richtig zu duschen. (Die Dusche in der Nepveustraat liefert nicht mehr als »einen schlappen Strahl«.) Auf der Suche nach seinen Eltern macht er alle Türen auf. Mirjam ist nicht da, und mich findet er schließlich im Schlafzimmer, lesend im Bett. Er ist fröhlich, voller Energie.
»Hi. Ruhetag? Willst du noch duschen?«
»Gleich.«
»Ist‘s okay, wenn ich zuerst gehe?«
»Dann lern aber endlich mal, den Waschlappen nicht pitschnaß auf den Badewannenrand zu klatschen. Ich habe keine Lust, deine benutzten Waschlappen auszuwringen.«
Er grinst und steigt auf den Hometrainer. Ich weiß nicht, wie das Gespräch auf die Coen-Brüder kommt, seine Lieblingsregisseure, doch während er locker in die Pedale tritt, hält er mir eine kleine Vorlesung über Coen-Kino. »So was von Verarschung.« Er hat gerade den neuesten Coen gesehen, Burn after reading , und stöhnt bei der Erinnerung an die Rollen von Pitt und Clooney. »Echt arme Schweine, die beiden.«
Brad Pitt, höre ich, spielt einen mit Babytalkum bepuderten Fitneßstudiobetreiber. Und Clooney … zu schade zum Nacherzählen: »Was läßt der sich vorführen.«
»Meinst du die Rolle, die sie spielen, oder die Schauspieler selbst?«
»Beides. Das ist ja das Gemeine an den Coen Brothers. Indem sie den beiden so eine Rolle geben, stellen sie sie genau so dar, wie sie in Wirklichkeit sind. Superdoof.«
»Nimm‘s mir nicht übel, Tonio, aber du erinnerst mich ein bißchen an einen Theaterbesucher aus primitiven Zeiten. So jemanden, der dem Schurken des Stücks beim Künstlerausgang auflauert, um ihm für seine Missetaten eine Tracht Prügel zu verpassen.«
Tonio hörte auf zu strampeln und sah mich kopfschüttelnd an. Ich hatte wieder mal nichts begriffen. »Warum, glaubst du, bieten die Coen Brothers solchen
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