Tony Mendez 01 - Schwärzer als der Tod
beide waren sich im Grunde sehr ähnlich. Sie wollte auch in die kleinen Köpfe kriechen, die Kinder verstehen. »Er hält sich zurück und wartet erst einmal ab, bevor er sich entscheidet, was er als Nächstes tut.«
»Er hat heute ganz schön was einstecken müssen.«
»Er ist Wendy zu Hilfe geeilt - dem Mädchen, das Dennis angegriffen hat. Und er tat es, obwohl er genau wusste, dass er dafür von Dennis Prügel kassieren würde.«
Vince lächelte. »Dann gibt es also doch noch echte Kavaliere.«
»Ja, er ist einer. Und nach dem, was Tommy erzählt, ist sein Vater genauso.«
»Na gut«, sagte Vince. »Würden Sie mir bitte einen Gefallen tun? Würden Sie Tommy fragen, ob sich sein Vater letzten Donnerstagabend zu Hause aufhielt oder unterwegs war?«
Der Gedanke behagte ihr nicht. Er spürte ihren Widerstand.
»Das sind ganz einfache Fragen, auf die es wahrscheinlich ganz einfache Antworten gibt«, sagte er. »Ich glaube nur, dass es besser wäre, wenn Sie sie stellen. Es ist nicht nötig,
dass ein FBI-Agent ihn mit solchen Fragen verschreckt. Er vertraut Ihnen.«
Sie hob eine Augenbraue. »Und weil er mir vertraut, soll ich ihn hereinlegen?«
»Ich bitte Sie doch nicht, ihn hereinzulegen. Stellen Sie ihm für mich ein paar Fragen. Das ist alles.«
»Warum fragen Sie nicht Mrs Crane?«
»Den Drachen?«, entgegnete er. »Frauen haben Hintergedanken, Kinder nicht.«
Sie überlegte kurz und musterte ihn dabei mit einem Blick, der ihm verriet, dass sie ihm nicht so ganz über den Weg traute. Diese Frau war wehrhaft wie eine Amazonenkriegerin und verschanzte sich entweder hinter ihrem Schild oder zog ihm eins damit über, wenn sie es für nötig hielt.
»Ich bitte Sie doch nicht darum, den Bauplan einer Atombombe zu klauen«, sagte Vince und spießte ein weiteres Stück Lasagne auf. »Sie sollen nur einen kleinen Jungen fragen, wo sein Vater letzten Donnerstagabend war.«
»Das wäre wohl möglich«, sagte sie zögernd.
»Was wissen Sie von den Morgans?«, fragte er.
»Nette Leute. Der Vater - Steve - ist Anwalt. Sara unterrichtet gelegentlich an der Abendschule Kunst. Aber die meiste Zeit kümmert sie sich um das Kind. Die beiden haben eine Tochter - Wendy.«
»Gute Ehe?«
Sie zuckte die Achseln. »Soweit ich weiß. Sagen Sie bloß, Sie verdächtigen Steve Morgan.«
»Er war mit Lisa Warwick bekannt. Wir müssen ihn überprüfen. Reine Routine. Wenn bei den Morgans zu Hause etwas nicht stimmt, würden Sie das dem Mädchen anmerken, oder?«
»Was bekomme ich eigentlich dafür, wenn ich meine Schüler aushorche?«, fragte sie ihn unvermittelt.
»Ich spreche mit Ihrem Rektor«, bot er an. »Ich empfehle ihm, Dennis Farman einen Tutor zur Seite zu stellen. Vielleicht könnte der Junge wenigstens ein paar Stunden am Tag in die Schule kommen, solange er nicht am Unterricht teilnimmt oder auf den Spielplatz darf. So können Sie den Kontakt mit ihm aufrechterhalten. Wie klingt das?«
»Wenn Sie mich in dieser Sache unterstützen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
Quidproquo , dachte Vince. Vielleicht würde sie etwas Nützliches herausfinden, vielleicht würde aber auch gar nichts dabei herauskommen … außer einem weiteren Abendessen … oder auch zwei …
Er streckte ihr seine Hand entgegen, und sie ergriff sie. Sie hatte eine kleine, weiche und dennoch kräftige Hand, wie eine Frau, die wusste, was sie wollte. Das gefiel ihm.
»Abgemacht?«, fragte er.
»Abgemacht.«
Als er darauf bestand, Anne zu ihrem Auto zu bringen, sträubte sie sich nur kurz. Bei einem frei herumlaufenden Serienmörder wäre das auch dumm gewesen.
Er wartete, bis sie in ihren kleinen roten VW eingestiegen war, und beugte sich dann zum offenen Fenster herunter.
»Verriegeln Sie die Türen, und halten Sie nicht an, egal weswegen«, wies er sie an.
»Ja, Sir.«
»Und nennen Sie mich nicht Sir. Dann denke ich nur, dass ich zu alt bin.«
»Zu alt für was?«, fragte sie und sah ihn mit einem kleinen Mona-Lisa-Lächeln an.
Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, streckte er den Kopf ein Stück vor und küsste sie auf den Mund.
»Dafür«, murmelte er.
Daran war nur die Kugel schuld.
Sie gab ihm keine Ohrfeige. Das war vielversprechend.
»Danke für Ihre Hilfe, Anne«, sagte er.
Sie war immer noch damit beschäftigt, den Kuss zu analysieren.
»Danke für die Lasagne«, sagte sie.
Er sah ihr nach, wie sie in der Dunkelheit verschwand, und verbot es sich, sich zu viele Hoffnungen zu machen. Dann ging er
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