Tony Mendez 01 - Schwärzer als der Tod
nicht.
1
Mein Held
Mein Dad ist mein Held. Er ist einfach toll. Er arbeitet sehr viel, ist immer nett und versucht, anderen zu helfen .
Wenn sie gekonnt hätte, hätte die Frau geschrien. Er hatte dafür gesorgt, dass sie den Mund nicht öffnen konnte. In ihren Augen hätte das blanke Entsetzen gestanden. Er hatte sichergestellt, dass sie sie nicht öffnen konnte. Er hatte sie blind und stumm gemacht, in die perfekte Frau verwandelt. Schön. Eine Frau, die zu sehen, aber nicht zu hören war. Gehorsam. Er hatte sie bewegungsunfähig gemacht, sodass sie sich nicht wehren konnte.
Manchmal hilft er mir bei den Hausaufgaben, er ist nämlich sehr gut in Rechnen und Sachkunde. Manchmal üben wir im Garten Fangen, das macht total Spaß. Aber er ist ständig unterwegs. Er arbeitet sehr viel .
Ihr unkontrollierbares Zittern und der Schweiß, der ihr übers Gesicht lief, ließen ihr Entsetzen erkennen. Er hatte sie in das Gefängnis ihres Körpers und ihres Geistes gesperrt, und daraus gab es kein Entkommen.
Die Sehnen an ihrem Hals traten hervor, als sie sich gegen ihre Fesseln stemmte. In dünnen Rinnsalen liefen Schweiß und Blut über ihre runden kleinen Brüste.
Mein Dad sagt, dass ich immer höflich und respektvoll zu anderen Leuten sein soll. Ich soll andere Leute so behandeln, wie ich selbst behandelt werden will .
Jetzt musste sie ihn respektieren. Sie hatte keine andere Wahl. Alle Macht lag bei ihm. Bei diesem Spiel war er der Gewinner. Er hatte ihr die Maske heruntergerissen, die hübsche Fassade, um die nackte Wahrheit zu enthüllen: dass sie ein Nichts war und er allmächtig.
Es war wichtig, dass sie das begriff, bevor er sie tötete.
Mein Dad ist ein sehr wichtiger Mann in der Gemeinde.
Es war wichtig, dass sie Gelegenheit hatte, sich darüber klar zu werden. Deshalb würde er sie noch nicht gleich töten. Abgesehen davon hatte er jetzt auch gar keine Zeit dafür.
Mein Dad. Mein Held.
Es war fast drei Uhr. Er musste sein Kind von der Schule abholen.
2
Fünf Tage später
Dienstag, 8. Oktober 1985
»Du bist’n Scheißer, Crane.«
Tommy Crane seufzte und sah stur geradeaus.
Dennis Farman beugte sich von seinem Tisch zu Tommy herüber und verzog sein feistes Gesicht zu einem Ausdruck, den er vermutlich für hartgesotten hielt.
Tommy versuchte, sich zu sagen, dass er einfach nur blöd aussah. Er war ein Kretin. Das war sein neues Wort der Woche. Kretin: jemand, der in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben und manchmal auch körperlich missgebildet war. Jemand, der dumm oder töricht handelte.
Besser konnte man Dennis gar nicht beschreiben.
Er verdrängte lieber, dass Dennis Farman größer war als er, ein ganzes Jahr älter und durch und durch gemein.
»Du bist’n Scheißer und’n Schwanzlutscher«, sagte Farman und fing an zu lachen, als hielte er das für geistreich oder so was.
Tommy seufzte erneut und warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Noch zwei Minuten.
Wendy Morgan drehte sich auf ihrem Stuhl herum und sah ihn genervt an. »Sag doch was, Tommy. Sag ihm, dass er ein Idiot ist.«
»›Sag doch was, Tommy‹«, äffte Farman sie mit verstellter, hoher Mädchenstimme nach. »Oder lass das doch deine Freundin für dich erledigen.«
»Der hat gar keine Freundin«, mischte sich Cody Roache ein, Dennis Farmans dürrer Schatten. »Der ist schwul. Er ist schwul, und sie ist’ne Lesbe.«
Wendy verdrehte die Augen. »Halt die Klappe, Blödi Roache. Du weißt doch noch nicht mal, was das heißt.«
»Weiß ich wohl.«
»Weil du’s selber bist.«
Tommy sah dem Zeiger zu, wie er der Freiheit eine Minute näher rückte. Vorn ging Miss Navarre mit einem gelben Zettel in der Hand von der Tür zurück zu ihrem Pult.
Unter Folter, wenn ihm jemand eine brennende Fackel an die Füße gehalten oder Bambusstäbchen unter die Fingernägel getrieben hätte, hätte er gestanden, dass er irgendwie in Miss Navarre verliebt war. Sie war klug und nett und mit ihren großen braunen Augen und den hinter die Ohren gestrichenen dunklen Haaren auch noch richtig hübsch.
»Fotze«, sagte Roache, gerade laut genug, dass das schlimme Wort wie ein vergifteter Pfeil direkt zu Miss Navarres Ohr schoss und ihre Aufmerksamkeit in seine Richtung lenkte.
»Mr Roache«, sagte sie mit einer Stimme, so scharf wie ein Messer. »Möchtest du nach vorn kommen und deinen Klassenkameraden erklären, warum du morgen während der kleinen Pause und der Mittagspause im Klassenzimmer bleiben
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