Tony Mendez 02 - Eine verräterische Spur
nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollte. Daher drangen sie in kleinen Wutausbrüchen an die Oberfläche, und Haleys Versuche, zumindest ein bisschen Kontrolle über ihre Umgebung zurückzugewinnen, äußerten sich in Trotzhandlungen.
Annes Verständnis änderte natürlich nichts daran, dass sie und Vince sich das Geschrei anhören mussten.
Vince warf Haley einen Blick zu, der genügte, dass sie sich wieder auf die Bank setzte. »Genug«, sagte er ruhig. »Wenn du dich weiter so aufführst, wird es nichts mit dem Besuch, Fräuleinchen.«
Große Tränen bildeten sich in Haleys Augen, und sie fing an zu weinen.
Sie ignorierten den neuerlichen Anfall.
»Möchtest du das wirklich tun?«, fragte Vince.
»Nein, aber wahrscheinlich ist es eine gute Ablenkung«, sagte Anne. »Für uns beide.«
Anne hatte zwar überhaupt keine Lust auf die Gesellschaft von Milo Bordain, fand aber, dass es der richtige Tag war, Haley zu den Kätzchen auf der Ranch der Bordains zu bringen. Haley sollte an der frischen Luft sein, sich ein bisschen bewegen und mit anderen Dingen beschäftigen als mit ihren verwirrenden Gefühlen.
Dasselbe galt für Anne selbst. Es würde ihr guttun, sich einige Zeit an der frischen Luft und im Grünen aufzuhalten.
»Lass dich nur nicht von der Frau aus dem Konzept bringen«, warnte Vince sie. »Sie meint immer noch, sie a-d-o-p-t-i-e-r-e-n zu können. Dass dem wegen der neuen Erkenntnisse über die Vaterschaft nicht so ist, hat ihr noch keiner gesagt.«
Vince hatte sie auf den neuesten Stand gebracht. Alle warteten darauf, was Gina Kemmer zu sagen hatte, die wahrscheinlich die Einzige war, die die genaueren Umstände von Haleys Geburt kannte.
Anne versuchte die Vorstellung zu verdrängen, dass irgendwo Haleys Eltern lebten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Marissa Fordham – die offenbar eine liebevolle, fürsorgliche Mutter und ein guter Mensch gewesen war – das Kind gestohlen hatte. Es musste eine andere Erklärung geben.
Haley hatte aufgehört zu weinen und knabberte an einem Stückchen Heidelbeermuffin.
»Wir machen eine Fahrt in einem Polizeiauto«, sagte Anne zu ihr. »Das wird bestimmt lustig.«
»Wohin fahren wir denn?«
»Das kann ich dir sagen. Wenn du fertig gefrühstückt, die Zähne geputzt und dich angezogen hast, wird uns der Deputy zu Tante Milos Ranch fahren, und du kannst deine Kätzchen besuchen.«
Haleys Laune besserte sich schlagartig. Fortan war sie brav wie ein Lamm.
Vince fuhr ins Krankenhaus, um sich zu erkundigen, ob Gina Kemmer mittlerweile vielleicht so weit bei Kräften war, dass sie ihnen weitere Informationen geben konnte.
Anne zog Jeans und ein kariertes Flanellhemd an, das über ihre Verbände passte und bequem war, und band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Haley steckte sie in eine Latzhose und einen Rollkragenpulli und flocht ihr Zöpfe, dann brachen sie auf.
Es war ein strahlender Tag, und die Fahrt durch das Tal zur Ranch der Bordains war wunderschön. Anne und Haley saßen nebeneinander auf der Rückbank des Streifenwagens und blickten durch das Schutzgitter wie zwei Schwerverbrecher.
Dann schaute Haley eine Weile zum Fenster hinaus. »Das ist ja der Weg nach Hause!«, rief sie. »Glaubst du, meine Mommy ist da, wenn wir nach Hause kommen?«
»Nein, mein Schätzchen. Deine Mommy ist jetzt ein Engel im Himmel, hast du das schon vergessen? Glaubst du, deine Kätzchen werden sich freuen, dich zu sehen?«
Haley nickte und spielte mit der Stoffkatze, die ihr Milo Bordain geschenkt hatte. Sie übte Miauen mit ihr.
Kaum war das Auto zum Stehen gekommen, sprang Haley hinaus. Milo wartete schon auf sie, perfekt gekleidet in Reithose und Reitjacke, tipptopp frisiert.
Haley rannte auf sie zu. »Wo sind meine Kätzchen? Wo sind meine Kätzchen?«
»Wie wäre es, wenn du erst mal Tante Milo anständig begrüßt?«, sagte Anne.
»Hallotantemilo, wo sind meine Kätzchen?«
Milo Bordain lächelte eins ihrer äußerst professionellen Lächeln. »Ich bin ja so froh, dass Sie sich dazu durchgerungen haben, Haley herzubringen. Ich habe sie ganz schrecklich vermisst!« Sie beugte sich vor und versuchte, Haleys Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich habe dich so sehr vermisst, Miss Haley!«
Haley sah sie finster an. »Wo sind meine Kätzchen?«
»Haley«, sagte Anne mit drohender Stimme. »Benimm dich, sonst fahren wir gleich wieder heim.«
»Die Katzen sind in der Scheune«, sagte Milo Bordain begütigend und ging ihnen voran.
Das ganze
Weitere Kostenlose Bücher