Tore der Zeit: Roman (German Edition)
abgewandt waren. Er wirkte wie ein ganz gewöhnlicher Quizmaster, den man in einen lächerlichen Umhang gesteckt hatte. Wegen der getönten Brille konnte Ravenna unmöglich sagen, ob er sie und Lucian im Auge hatte.
Vadym beriet sich unterdessen mit seinen Freunden. Einer der Russen hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt, sehr zum Missfallen der rothaarigen Hexe aus der obersten Reihe. Die Herausforderer saßen ihnen schräg gegenüber, wie Boxer in einem Ring.
»Versprich mir, dass du auf dich Acht gibst«, verlangte Lucian. Ravenna nickte. Er hielt sie am Handgelenk fest. »Versprich es mir und sieh mir dabei in die Augen. Das hier ist nicht bloß ein TV-Quiz. Und du bist ganz allein.«
Sie nagte mit den Zähnen an der Unterlippe. »Versprochen. Ich werde kein Risiko eingehen. Aber ich will dieses Geld gewinnen. Wir sind so kurz davor.« Sie hielt Zeigefinger und Daumen dicht vor Lucians Gesicht. Als er mit den Augen rollte, lachte sie. Dann küsste sie ihn und kehrte zurück an ihren Platz.
Während der Pause verwandelte sich das Studio in ein einziges Chaos. Leute strömten zu den Toiletten oder zum Getränkeautomaten auf dem Gang. Techniker standen in Gruppen beisammen und besprachen den Ablauf des letzten Blocks. Ein Kameraassistent fegte das gummiartige Stroh vom Boden, ein anderer klebte Kabel mit Gafferband fest. Ravenna nutzte die Gelegenheit, um ein paar Schritte auf und ab zu gehen und die Schultern zu lockern. Die Visagistin tauchte auf und fing an, ihr Gesicht abzupudern und ihre dunklen Locken in Form zu ziehen. In dem ganzen Durcheinander kam Vadym auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.
»Nicht schlecht. Ich gratuliere.«
Ravenna verscheuchte die Frau mit der Puderquaste. Dann erwiderte sie den Händedruck. Vadyms Finger waren eiskalt und hatten lange, spitz zulaufende Nägel.
»Woher kommst du?« Ihr wurde schwindlig, als sie in die Pupillen des abgründigen Russen schaute. Er besaß eine Gabe – kein Zweifel. Sie musste nur noch herausfinden, worin sein magisches Talent bestand.
»Sankt Petersburg«, raunte er. »Wie meine Freunde.« Er deutete auf die jungen Russen, die in der ersten Bankreihe flegelten. Ravenna hatte das Gefühl, eine ausgehungerte Pokerrunde starre sie an – als Hauptgewinn. Ganz bestimmt beschäftigten sich Vadym und seine Freunde nicht mit weißem Hexenzauber.
»Was hast du denn mit dem Geld vor, falls du gewinnst?«, wollte sie wissen.
»Wir kaufen eine Kirche.«
»Was?« Das Lachen platzte nur so aus ihr heraus.
»Warum lachst du?«, fragte er beleidigt. »Das ist mein Ernst. Wir kaufen eine Kirche. Mitten in Paris. Schließlich müssen wir irgendwo wohnen, und in den meisten Chäusern ist es zu warm. Du hast vorhin gesagt, dass du alte Kathedralen restaurierst. Du könntest für mich arbeiten.«
»Du machst Witze. Das würde ich nie tun. Ich bin eine Hexe.«
Vadym legte den Kopf schräg und musterte sie. »Du bist eine Tormagierin«, stelle er fest. »Das ist auch Cezlav aufgefallen. Ein seltenes Talent. Aber viele der Tore sind kaputt – zerbrochen, verflucht, was weiß ich.«
»Wer ist Cezlav? Und was wisst ihr schon über Tore?«
Obwohl sie gelassen auftrat, schlug Ravenna das Herz bis zum Hals. Sogar in einer Welt, die sich so sehr verändert hatte wie das Jahrhundert, in das sie von ihrer letzten Zeitreise zurückgekehrt war, stellte Tormagie ein geheimes Wissen dar. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der darüber Bescheid wusste. Oder eine Ahnung hatte, was mit den Toren geschehen war.
»Cezlav ist mein Freund«, erklärte Vadym. Als er auf den Betreffenden zeigte, hob dieser den Arm und grüßte. Es war der Begleiter, der Vadym vorher umarmt hatte. Eine Locke fiel ihm über das Auge, und er trug eine Anzughose und eine Seidenweste, aus deren Tasche eine Uhrkette hing. Himmel, ein russischer Spieler, der auf Jungs stand! Da würde die rothaarige Rockerin aber enttäuscht sein.
»Heißt das also, du würdest den Geldkoffer wählen?«, fragte Ravenna nach. »Oder spielst du in der nächsten Runde weiter?«
Jeder Sieger des WizzQuizz wurde am Ende der Sendung vor die Wahl gestellt: das Geld nehmen und aufhören. Oder sich für den zweiten Koffer entscheiden, womit die Show automatisch in die nächste Runde ging. Dieser Durchgang fand dann allerdings nicht mehr im Studio statt, sondern draußen auf der Straße, inszeniert als wilde Hatz durch Paris. Das Problem war nur: Niemand wusste, was der zweite Koffer enthielt.
Vadym nickte
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