Tore der Zeit: Roman (German Edition)
ihr in der Maske verpasst hatte, tiefer in ihr linkes Ohr. Im Kopfhörer vernahm sie zwei Stimmen, die miteinander stritten. Die Übertragung war nicht deutlich genug, dass sie alles verstand.
»Davon steht nichts in der Regieanweisung. Wie kommt er denn jetzt darauf?« Eine Männerstimme, jung und offenbar ziemlich gestresst. »Irgendwer hat die Fragen doch vorbereitet.«
»Also ich nicht.« Eine Frau, mit starkem Akzent. Ravenna tippte auf Haiti. Oder Madagaskar. Irgendeine Insel jedenfalls, auf der man etwas mit Voodoo und Quija-Brettern anfangen konnte. »Ich bestimmt nicht«, wiederholte die Frau.
»Wie, du nicht? Du bist doch für die Fragen zuständig. Du bist das Medium. Ich dachte, du wärst vorher alles mit Beliar durchgegangen.«
»Bin ich auch. Aber nicht diese Frage. Keine Ahnung, wie er darauf kommt.«
Der Regieassistent explodierte. »Das gibt’s doch nicht. Er kann doch nicht einfach machen, was er will, und wenn er diese Show zehnmal erfunden hat!«
»Hallo? Wer spricht da?«
Als sich Ravenna zu Wort meldete, verstummten die beiden Streithähne in ihrem Ohr. Ganz egal, weshalb sie sich hinter den Kulissen in den Haaren lagen – sie brauchte eine Antwort. Und zwar sofort.
»Sprich mit mir«, bat sie und fixierte einen Punkt jenseits der starken Lampen. Für die Zuschauer sollte es so aussehen, als empfange sie übersinnliche Wahrnehmungen. »Enthülle mir die Lösung des Rätsels!«
»Ravenna?« Das war das Medium.
»Ja. Ich bin hier.« Die Zuschauer stöhnten auf. Sie stöhnten jedes Mal, obwohl sie von vorneherein wussten, was an dieser Stelle passierte.
»Es gibt ein Problem.«
»Habe ich mitgekriegt«, brummte Ravenna. »Ich brauche nur die Antwort auf eine einfache Frage: Was bedeutet Acencræf t ?«
Schweigen. Der Knopf in ihrem Ohr knisterte.
»Das wissen wir nicht«, gestand das Medium. »Beliar hat die Frage dazwischengeschoben. Keine Ahnung, wieso er sich nicht an die Vorgaben hält.«
Ravenna ahnte es, aber sie schwieg. Schweiß prickelte unter ihrer Bluse. Im Hintergrund hörte sie, wie der Regieassistent auf und ab stürmte.
»Die Zeit läuft«, sagte Beliar und sah auf die Uhr. »Noch fünf Sekunden.«
Ravenna wickelte den kleinen Finger um das Kabel und zog den Stöpsel aus ihrem Ohr. Sie versuchte sich zu konzentrieren, trotz der wachsenden Unruhe im Studio, des heißen Lampenlichts und Yvonnes Bild, das wie eine Geistererscheinung durch ihr Gedächtnis spukte.
Plötzlich durchzuckte sie ein Stich und sie geriet auf dem Hocker ins Wanken. Wie eine herausgesprungene Bandscheibe fühlte sich das an. Oder ein Dorn aus Eisen, den ihr jemand durch die Wirbelsäule trieb. Sie riss die Augen auf.
»Schmerz!«, rief sie. » Acencræft bedeutet, jemandem Schmerz zuzufügen.« In der Aufregung dachte sie nicht daran, den Buzzer zu betätigen.
Vadym dagegen vergaß es nicht. Das Summen ertönte. »Pein«, zischte der Russe, nachdem er von ihr die passende Antwort gehört hatte. » Acencræft bedeutet, jemanden leiden zu lassen.«
»Richtig«, sagte Beliar leise. »Es ist eine sehr alte satanische Kunst. Wie der Name schon sagt, vermag der Besitzer dieser Gabe andere Menschen durch bloße Willenskraft zu quälen. Ein Punkt für Vadym, kein Punkt für Ravenna. Damit haben wir ein Unentschieden, und Ravenna tritt in der dritten Runde noch einmal gegen unseren Champion an. Wir sehen uns nach der Werbepause wieder.«
Die Erkennungsmelodie der Show ertönte, und das Logo des Quiz erschien auf dem Bildschirm.
Ravenna wartete, bis der Spot, der auf sie gerichtet war, ausgeschaltet war. Dann glitt sie von ihrem Hocker und ging zur Bande, die den Zuschauerraum von der Arena trennte. Lucian merkte erst nicht, dass sie vor ihm stand. Er saß weit zurückgelehnt da und wischte sich mit den Fingern über die Augen. Seine Knie zitterten, als hätte er soeben eine Marathonstrecke hinter sich gebracht.
»Was ist los mit dir? Alles okay?«
Er ließ die Arme sinken. Dann zog er eine Grimasse und fächelte sich Luft zu. »Mir ist bloß heiß. Diese verdammten Lampen versengen uns fast. Wie geht es deinem Rücken?«
»Meinem …« Verblüfft fasste sich Ravenna ans Kreuz. »Woher weißt du davon?«
»Ich habe gesehen, wie du zusammengezuckt bist.«
Sie runzelte die Stirn. »Und ich sehe, wenn du lügst. Du weißt das, ja?«
»Wieso fragst du das Medium? Ich hätte dir auch helfen können.« Er klang gekränkt.
»Und? Hast du?«
Lucian schwieg. Großer Gott. Er war tatsächlich
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