Tore der Zeit: Roman (German Edition)
beleidigt. »Das war kein echtes Medium. Es ist doch alles bloß Show«, erklärte Ravenna.
»Ist es nicht«, widersprach Lucian. »Beliar ist hier, und das bedeutet, dass es ganz gewiss kein Spiel ist. Wir sollten gehen. Das Studio verlassen. Die Stadt, wenn es sein muss.«
Ravenna schob die Hände in die Hosentaschen. Mit ihren letzten Ersparnissen hatte sie sich neue Kleider für den Auftritt im Fernsehen gekauft. Jetzt bereute sie ihre Eitelkeit. Denn sie konnte nicht einmal mehr das Taxi zum Bahnhof bezahlen. »Das meinst du doch nicht im Ernst. Noch haben wir eine Chance. Ich muss nur die dritte Runde überstehen.«
Lucian schüttelte den Kopf. »Was spielt das denn für eine Rolle? Dieses Spiel ist demütigend. Es ist einer Hexe nicht würdig.«
Ravenna seufzte. Ihr Ritter hatte recht. Aber verstand er auch, unter welchem Druck sie stand? Welchen Sachzwängen sie gehorchte – mitten im Paris des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Sie beugte sich vor, legte ihm die Hand auf die Schulter und brachte den Mund dicht an sein Ohr. Das Mikrofon an ihrem Kragen deckte sie mit den Fingern zu. »Siehst du diese dicken Mauern? Sie sehen wie ein Bergfried aus, nicht wahr? Aber sie sind nicht echt. Nichts in diesem Studio ist echt, schon gar nicht der Moderator oder das Medium.«
Als sie sich wieder aufrichten wollte, hakte Lucian den Finger in den Ausschnitt ihrer Bluse und hielt sie fest. »Das habe ich begriffen. Ich stamme vielleicht aus dem Mittelalter, aber ich bin nicht dumm. Genau deshalb möchte ich dich von hier wegbringen, Ravenna. Du gehörst nicht hierher. Du bist eine wirkliche Hexe. Ein Mitglied des Zirkels. Schon vergessen?«
Sie schaute ihm in die Augen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Denn die Wahrheit lautete: Ohne ihn wäre sie niemals eine Hexe geworden. Sie hätte es nicht geschafft. Lucian hatte ihr geholfen. Er hatte stets das Richtige getan und alles unternommen, damit sie die Prüfungen der Sieben bestand – sogar die Prüfung des Schicksals.
Sie hätte niemals geglaubt, dass sie eines Tages jemandem wie ihm begegnen würde. Eines sehr fernen Tages, wenn man es genau nahm: Sie hatten sich an einem Maimorgen vor mehr als siebenhundert Jahren kennengelernt. Damals hatte sie keine Ahnung gehabt, dass Lucian einem geheimnisvollen Ritterorden angehörte und den Sieben diente. Sie hatte keine Ahnung vom höfischen Leben mit all seinen Regeln, Schwüren und Ehrbegriffen. Lucian dagegen kannte nichts anderes. Er war im dreizehnten Jahrhundert aufgewachsen, als Sohn eines Burgherrn, der eine tödliche Fehde mit dem König austrug. Dass er nun in diesem Studio saß, weil er in Gegenwart seines Königs und aller Hexen geschworen hatte, sie durch die Jahrhunderte hindurch zu begleiten, beschämte sie. Denn es war nicht richtig.
Behutsam machte sie sich von ihm los und nahm die Hand, an der er den Ring seiner Gemeinschaft trug. Die winzige Windrose funkelte im Lampenlicht und wirkte genauso fehl am Platz wie ihr Träger.
»Wir beide gehören nicht hierher«, sagte sie leise. »Glaub mir, das weiß ich. Aber solange wir kein Geld haben, können wir das nicht ändern.«
Sie zeigte auf die beiden Koffer, die zwischen den Konsolen ruhten. »Einhunderttausend Euro«, flüsterte sie. »Hast du eine Vorstellung davon, wie viel Geld das ist? Und was wir damit machen könnten? Es würde uns helfen, endlich ein Tor zu finden, das noch funktioniert. Ein Tor in deine Welt.«
»Man kann Magie nicht mit Geld aufwiegen«, widersprach Lucian.
»In meiner Zeit schon.«
Ravenna sah, wie er missbilligend das Gesicht verzog. »Tu mir einen Gefallen«, bat sie. »Bleib einfach hier sitzen und stell nichts an. Behalte alles im Auge, so wie wir es abgemacht hatten. Okay? Aber lass dich ja nicht von Beliar herausfordern. Ich kriege das schon irgendwie hin. Falls jedoch jemand anfängt, Fragen zu stellen, bekommst du eine Menge Ärger. Vergiss nicht: In meiner Welt existierst du eigentlich nicht.«
»Mehr Ärger, als Beliar uns machen kann?«, fragte Lucian herausfordernd. »Wusstest du, dass er der Spielmacher ist?«
Ravenna schüttelte den Kopf. »Aber nun sind wir hier, und mir bleibt nichts anderes übrig, als sein Spiel mitzuspielen. Ich will wissen, wie er zurückkehren konnte. Warum er wieder hier ist. Ich will herausfinden, was der Teufel im Schilde führt. Du etwa nicht?«
Lucian schaute zu den drei Sitzen in der Mitte des Saals. Beliar plauderte mit der Assistentin, solange die Scheinwerfer von ihm
Weitere Kostenlose Bücher