Tore nach Thulien 1 : Dunkle Gassen (German Edition)
Glauben gab es für Taris keine, auch wenn er manchmal die Gegensätzlichkeiten und Widersprüche innerhalb des Glaubens nicht verstand. Auf der einen Seite wurde Nächstenliebe gepredigt, bedingungslos und ehrlich sollte sie sein. Im selben Atemzug aber forderte die Kirche auch beispiellose Härte und Unnachgiebigkeit gegen alle Anhänger und Verehrer des alten Glaubens. Gleichzeitig wurde immer wieder Gehorsam und Loyalität gegenüber der Herrin verlangt, aber auch zum Widerstand und Boykott der alten Religion aufgerufen. Für Taris war der alte Polytheismus Geschichte, eine längst vergangene Zeit voller Schrecken und Dunkelheit. Die Herrin war die Ordnung und das Licht, die Götter von einst aber nur noch ein Schreckgespenst der Vergangenheit, ein Schauermärchen für kleine Kinder.
Ruhe und Frieden fand Taris immer in der Tiefen Meditation , der hohen Phase der Andacht. Dabei waren seine Sinne beinahe komplett nach Innen gekehrt und das eigene Selbst offen für neue Empfängnisse des Glaubens. Heute wollte ihm das alles aber nicht so recht gelingen. Immer wieder öffnete er die Augen, und seine Gedanken flogen über die Dächer und Gassen Leuenburgs, hin nach Fuhrheim, zu einem Lagerhaus inmitten der Stadt. Taris ermahnte sich selbst immer wieder zur Konzentration und je stärker er sich mühte, umso mehr entfernte er sich von dem tiefen Zustand der Ausgeglichenheit. Entnervt stand er schließlich auf, griff nach einem Lederlappen und rieb sich das schweißnasse Gesicht ab. Seine Uniform hatte er vor Beginn der Meditation abgelegt und nur das Leinenhemd über dem Körper gelassen. Diese Nacht sollte es nicht sein, und so legte er sich auf die weiche, mit Stroh gefüllte Matratze und fiel augenblicklich in einen unruhigen Schlaf.
Es war noch dunkel, als Taris wieder erwachte. Etwas hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Draußen rührte sich nichts. Er richtete sich auf und ging noch etwas schlaftrunken an das offenstehende Fenster. Der Hauptmann schlief meistens bei offenem Fenster. Die frische, kühle Luft tat ihm gut und er hörte gern die Geräusche der Nacht. Sein Blick ging in den Hof hinunter. Etwas stutzig nahm er zur Kenntnis, dass die beiden Wachen am Feuer eingeschlafen waren. Sie lagen reglos neben dem kleinen, wärmenden Feuer. Erst auf den zweiten Blick fiel ihm auf, was an dem Bild nicht stimmte. Die Wachen lagen in voller Montur, ohne Decken auf dem Boden und ihre Haltung sah nicht sonderlich erholsam aus. Taris kniff die Augen zusammen und spähte konzentrierter in den Hof. Hinten am Wagen bewegte sich plötzlich etwas. Jemand schlich dort unten herum. Der Hauptmann riss die Augen auf. Sie versuchten es also noch einmal! Die Gestalt im Hof hielt jetzt eine Fackel in der Hand. Der Wagen , schoss es Taris durch den Kopf, Sie haben es auf den Wagen abgesehen! Im nächsten Moment lehnte er sich aus dem Fenster und rief:
>> Alarm! Soldaten Leuenburgs, Alarm! Der Feind steht in der Garnison! << Taris griff nach dem Schwertgehänge am Stuhl und rannte los. Zeit, um die Rüstung anzuziehen, war nicht mehr. Jetzt musste er schnell handeln, wollte er den Angreifer überwältigen. Mit großen Sprüngen hastete er den Gang entlang und die Treppe hinab. Mittlerweile erklangen überall Rufe. Taris glaubte für den Bruchteil einer Sekunde auch Waffengeklirr zu hören. Scheinbar hatten die Wachen vom Tor und der Vorratskammer den Angreifer bereits gestellt. Endlich erreichte er das Ende der Treppe und hastete in den Innenhof. Er musste sich kurz orientieren. Der Wagen hatte noch nicht wirklich Feuer gefangen. Die Metallbeschläge verhinderten bis jetzt ein effektives Übergreifen der Flammen, doch viel Zeit war nicht mehr. Hinter dem Wagen sah er verschwommene Schemen miteinander ringen. Taris rannte weiter. Im Vorbeilaufen erkannte er, dass einer der Wachen am Feuer die Kehle durchgeschnitten war, der anderen steckte ein metallener Stern in der Stirnplatte. Für sie kam jede Hilfe zu spät. Gerade als er um den Wagen herumkam, musste er mit ansehen, wie die letzte der Torwachen zu Boden ging. Der Angreifer war komplett in schwarz gekleidet und sein Gesicht hinter einem Tuch, dass bis über den Nasenrücken lief, versteckt. Beeindruckt und schockiert zugleich zählte Taris zwei Tote und mindestens zwei Schwerverletzte, wobei er sich sicher war, dass der Angreifer die beiden Torwachen nicht am Leben gelassen hatte. Er selbst machte bis jetzt nicht den Anschein, als sei er
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