Tore nach Thulien 1 : Dunkle Gassen (German Edition)
Shachin hatte in ihrem Leben weitaus größere und auch schönere Bauten gesehen, und doch war sie beeindruckt, zu was die Kirche der Herrin in einem Herzogtum dieser Größe imstande war. Zügig überquerte sie den Vorplatz. Gerade, als sie die großen Stufen zum Eingangsportal hinauf wollte, nahm sie eine Bewegung am Rand des Platzes war. Sofort meldete sich ihr Instinkt. Shachin ging weiter, als wäre nichts geschehen, doch alle Sinne waren auf die schwarz gekleidete Gestalt gerichtet. Als sie das große Portal erreichte, machte sie eine Vierteldrehung und ging die seitlichen Stufen hinunter. Diese führten zwar etwas steiler, dafür aber auch umso kürzer ebenfalls hoch zum Eingangstor des Doms.
Es sind drei , stellte sie überrascht und ein wenig beunruhigt fest. Dieser hier war nicht der Meister, da war sich Shachin sicher. Ohne darüber nachzudenken, bewegte sie sich in seine Richtung. Mit jedem weiteren Skorpion, der sich in Leuenburg aufhielt, wurde die Gefahr größer, und jetzt war es an der Zeit, dass sie in die Offensive ging. Dem Meister allein entgegenzutreten war das eine, seine Schergen dabei im Rücken zu wissen etwas ganz anderes.
Der Skorpion hatte sie nicht bemerkt. Er lief am Rand des Platzes entlang, womöglich um dem Regen zu entgehen. Du musst noch viel lernen , dachte Shachin bei sich, als sie sich langsam in sein Fahrwasser schob. Sie wollte ihn lebend zu fassen bekommen. Jede noch so kleine Information konnte ihr einen Vorteil verschaffen. Es würde nicht einfach werden, etwas aus ihm herauszubekommen, doch Shachin hatte ihre Mittel. Was am Ende zu tun sei, wusste sie, und auch wenn ihr der Tod eines Wehrlosen nicht behagte, so konnte sie hier keine Milde walten lassen. In ihrem Geschäft galt das Prinzip Du oder Ich und jeder, der sich darauf einließ, wusste das auch.
Der Skorpion gab sich nicht sonderlich viel Mühe, unentdeckt zu bleiben. Er machte eher den Eindruck, als sei ihm dieser Aspekt seiner Arbeit nicht so wichtig. Shachin folgte ihm unauffällig und hatte währenddessen genug Zeit, seine Bewegungen genau zu studieren. Der Mörder vor ihr war noch ein Schüler. Die Grundzüge und prinzipiellen Dinge waren ihm augenscheinlich geläufig, doch fehlte es ihm noch an der nötigen Erfahrung und Abgebrühtheit. Mehr als einmal korrigierte ihn Shachin in Gedanken, und nach einiger Zeit kam sie zu dem Schluss, dass auch sie mittlerweile eine ganz passable Lehrerin abgeben würde. Sie konnte sich nicht erklären, warum der Meister diesen Burschen mitgenommen hatte. Er musste wissen, dass dieser hier Shachin nicht das Wasser reichen konnte und ihr im Fall der Fälle nicht einmal annähernd gewachsen war. Ein weiteres, sinnloses Opfer, denn tot war der Schüler vor ihr bereits, auch wenn er das noch nicht wusste. Eine zweite Möglichkeit, die Shachin erst einige Augenblicke später in den Sinn kam, war, dass die Skorpione noch einen weiteren Auftrag in Leuenburg hatten. Einen, der weitaus weniger praktischer Kampferfahrung bedurfte als der, eine der ihren zur Strecke zu bringen. Wenn dem so war, dann hatte es der Skorpion vor ihr gar nicht auf sie abgesehen. Und dennoch, Shachin konnte kein Risiko eingehen.
Mit einem nur für sie hörbaren Seufzen schloss sie ein wenig weiter auf. Es war Zeit, diese Jagd zu beenden. Ihre Hand glitt zum Dolch. Noch ein wenig weiter und die Schatten eines großen Gebäudes würden die beiden verschlucken und nur einen von ihnen wieder gehen lassen. In dem Moment, als Shachin die Jagd beenden wollte, war ihr Opfer plötzlich verschwunden. Sofort hatte sie das dumpfe Gefühl, in eine Falle geraten zu sein. Sollte ihr etwa ein ähnlicher Fehler wie ihrem Opfer von heute Nacht unterlaufen sein? Shachin hielt inne und lauschte. All ihre Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Es war keine Falle. Sie wusste, dass ihr Opfer noch in der Nähe war, und sie wusste auch, dass es von ihrer Anwesenheit nichts mitbekommen hatte. Das ist dein Unterschlupf erkannte Shachin schmunzelnd. Sofort machte sie einen Schritt zurück und verschwand nun ihrerseits im Dunkel der Schatten. Immerhin war es möglich, dass er sie unbewusst zum Nest der Skorpione geführt hatte. Es widersprach zwar allen Regeln der Kunst, doch würde sie das jetzt auch nicht mehr wundern. Völlig sicher war sie sich jedoch nicht und so entschied sie, zu warten. Eine Flucht war für den jungen Skorpion nicht möglich, und Shachin würde vor dem Versteck ausharren und
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