Die dunklen Farben der Begierde (German Edition)
Kapitel eins
Clarissa Longleigh stand am Fenster, und ihre nervösen Finger spielten in den dunkelroten Vorhängen. Die sinkende Sonne stand bereits dicht über den höchsten Masten des Chelseakais, und im Osten sah man die Batterseabrücke, auf der ein reger Betrieb von zweirädrigen Droschken und Kutschen herrschte. Der Nachmittag war fast vorüber.
Ein Raddampfer, der stromabwärts glitt, entsandte flüchtige Rauchwolken in den leuchtend blauen Himmel. Von seinem Schaufelrad floss in Kaskaden silbriges Wasser, und Fischerboote, die gegen die Wuchtigkeit des Dampfers zwergenhaft klein wirkten, dümpelten sanft in seinem Fahrwasser. Wie langsam sich alles bewegte, dachte Clarissa. So langsam wie Zeit, die man mit Warten verbringt. Wenn sich die Wochen bis zu ihrer Hochzeit ebenso lang hinziehen würden wie die Stunden des heutigen Tages, dann erschiene ihr dieser Sommer wohl endlos.
Sie seufzte ungeduldig bei dem Gedanken daran, was vor ihr lag. Ob Lord Alexander Marldon wohl dem Bild entspräche, das sie sich von ihm machte? Weltgewandt und gutaussehend hatte ihr Vater ihn genannt. Als dunkel und etwas undurchdringlich hatte Alicia ihn bezeichnet, und das hatte Clarissa gut gefallen. So ein langweiliger Blondschopf wäre ohnehin nicht nach ihrem Geschmack.
Sie betete, dass auch sie seinen Vorstellungen entsprechen würde. Beim Gedanken daran, vielleicht am Ende der Saison nach Essex aufs Land zurückkehren zu müssen, ergriff sie die Furcht vor der Langeweile. Clarissa hatte absolut kein Bedürfnis danach, ihr neunzehntes Lebensjahr damit zu verbringen, dumme Musterdeckchen zu sticken und darauf zu warten, dass ihr Vater einen neuen passenden Bewerber fände. Sie wollte im Herbst heiraten, so wie es bereits vereinbart war. Sie wollte die Frau des sechsten Grafen von Marldon werden und in Lockshire Hall auf seinem großartigen Landsitz in Wiltshire leben.
Heute beim Abendessen, gewiss unter den missbilligenden Blicken ihres Vaters, wollte sie Lord Alec den Kopf verdrehen. Sie würde das verführerische blaue Seidenkleid tragen, das ihre neue Stiefmutter Alicia durchgesetzt hatte. Ihr schwarzes Haar wollte sie gelockt und kunstvoll aufgesteckt tragen, und sie würde elegant, geistreich und charmant sein. Wie sollte der Graf dann irgendetwas anderes sein als beeindruckt? Und dann würde er sich vielleicht, in einem Sommer voller Lustbarkeiten und Tanz, dazu hinreißen lassen, sie in aufregendere Dinge verwickeln zu wollen als nur in höfliche Konversation. Unbeobachtet von missbilligenden Blicken würde er sie leidenschaftlich umarmen und ihre Lippen mit verzehrenden Küssen bedecken.
Clarissa zog die Stirn kraus und versetzte der baumelnden goldenen Quaste, mit der man die Vorhänge schloss, einen Stoß. Ganz so einfach würde es wohl doch nicht werden. Ihr Vater und ihre Stiefmutter waren kurz davor, zu ihrer Hochzeitsreise aufzubrechen, und an ihrer Stelle sollte Hester Carr sich um sie kümmern und auf sie aufpassen. Eine altjüngferliche Tante, die man selten ohne ihre Bibel antraf, war nun wirklich keine vielversprechende Aussicht.
Ein Klappern an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Kitty Preedy schlurfte ins Zimmer, die sich mit einer großen kupfernen Kanne voll heißen Wassers abschleppte. Ihr elfenhaftes Gesicht war vor Anstrengung gerötet.
«Um Himmels willen», schimpfte sie vor sich hin, «für so was bin ich echt nicht geschaffen.»
Clarissa lächelte, und sie sah sie aus tiefblauen Augen mitleidvoll an. Das Stadthaus der Longleighs hatte seit dem Tod von Clarissas Mutter für mehr als 15 Jahre leer gestanden. Es war schön gelegen und von beachtlicher Größe, aber es fehlte ihm doch an einigen Annehmlichkeiten, und die Familie musste mit einfachen Waschzubern Vorlieb nehmen.
Kitty stellte den Krug neben den halbgefüllten Holztrog und fuhr sich mit dem dünnen Unterarm über die feuchte Stirn.
«Herrje, ich hoff nur, Ihr wollt nicht jeden Tag gut riechen, Miss», schnaufte sie, kniete sich auf den Teppich vor dem Kamin und rückte ihr Häubchen zurecht. Einige ihrer maisblonden Haarsträhnen hatten sich daraus befreit, und sie schob sie sich hinter die Ohren. Grummelnd goss sie Wasser in die Wanne und stieß leise Verwünschungen aus, als eine Dunstwolke sie verschluckte.
Kitty, oder ‹Pretty Kitty›, wie sie manchmal auch genannt wurde, war eine der wenigen Bediensteten von Sebden Hall, die ihre Familie nach London begleitet hatten. Zu Hause war sie eigentlich nur eine
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