Tore nach Thulien 2 : Dämmerung (German Edition)
dem Schnee trieben sie den Flüchtlingen die Tränen in die Augen. Unten im Tal begann sich zwar langsam und zaghaft der Frühling auszubreiten, doch hier oben herrschte noch die eiserne Faust des Winters. Der Wind häufte den Schnee an manchen Stellen meterhoch auf, und selbst bei den kleineren Schneewehen reichte er noch bis zu den Knien. Nur den Pferden war es zu verdanken, dass die Menschen mit den Alten, Kranken und Kindern überhaupt noch vorankamen, und selbst die Jungen und Gesunden gingen an ihre Grenzen, um den Sichelpass zu überwinden. Die Berge hier oben waren erbarmungslos und das Wetter schonte weder Pflanzen noch Tiere. Für die Nacht ein einigermaßen geschütztes Lager zu finden, war äußerst schwer, und die Nahrungsvorräte durch frisches Fleisch aufzubessern, nahezu unmöglich. Jeden Tag wurden Späher auf der Suche nach Wild ausgesandt und ein kleiner Trupp marschierte immer voraus, auf der Suche nach einer trockenen Raststatt. Der Weg über den Pass zehrte an Mensch und Tier gleichermaßen, und so wie beide gemeinsam litten, so begannen sie auch am zweiten Tag, Nahrung und Unterkunft zu teilen. Ein Feuer war eine Seltenheit, und wenn es doch einmal gelang, die mitgebrachten, vom Schnee inzwischen feucht gewordenen Scheite und Äste zu entzünden, dann konnte das ganze nur in einem Loch unterhalb des Schnees passieren. Die Angst vor den Verfolgern war groß und niemand wollte eine Entdeckung riskieren. Die Körper der Pferde wärmten die Flüchtlinge und dafür teilten sie Brot und Trockenobst mit den kräftigen Tieren. Von den Verfolgern fehlte seit Liams Täuschungsmanöver jede Spur, doch Wanhold und auch die Anderen wussten, dass die Hellen nicht so schnell aufgeben würden. Liams Bericht und die Beschreibungen von Gerling und Fernlug hatten Wanhold noch einmal in seinem Ziel, die Überlebenden des Dorfes nach Osten in Richtung Leuenburg zu führen, bestätigt. Durch den direkten Weg über den Pass würden sie gegenüber dem großen Heer des Feindes, das den langen Weg im Norden und Süden des Sensenkamms gewählt hatte, mehrere Tage Vorsprung gewinnen. Lebenswichtige Zeit, die ihnen ihre Flucht nach Leuenburg ermöglichen sollte.
Am dritten Tag auf dem Pass hatte sich das Wetter zusehends verschlechtert und Hirving, der alte Sattelmacher, erkrankte schwer. Seine Zehen verfärbten sich blau und kurz daraufhin schwarz. Am nächsten Tag bekam er Fieber und Schüttelfrost, und trotz der Bahre, die eines der Pferde hinter sich herzog, verschlechterte sich sein Zustand zusehends. Wanhold konnte auf Hirving keinerlei Rücksicht nehmen und mehr, als ihm das Laufen zu ersparen, war nicht möglich. Zwei Tage später starb Hirving, still und leise während des Marsches auf der Bahre. Die Fäule hatte sich inzwischen bis zu seinem Knöchel hochgearbeitet und am Ende erlag er dem auszehrenden Feuer des Fiebers. Die Flüchtlinge bemerkten seinen Tod erst am Abend, und in einer ruhigen Minute, irgendwann zwischen dem kargen Abendmahl und den wenigen Stunden Schlaf, die Wanhold den Leuten gönnte, wurde Hirving, der Sattelmacher, im Schnee beerdigt. Für Trauer blieb keine Zeit und nur ein seichter Buckel im Schnee zeugte davon, welch hohen Preis die Flucht über den Pass gefordert hatte. Am achten Tag erreichte die kleine Kolonne die östlichen Ausläufer des Passes und das Wetter wurde besser. Der Himmel klarte auf und der Schnee ließ nach. Gegen Mittag brach die Sonne das erste Mal seit langer Zeit wieder durch die Wolken und die Flüchtlinge schöpften neue Hoffnung. Das Ende des Passes war nah und mit ihm der Weg hinab ins Leuenburger Becken. Die Pferde spürten das Erwachen des Frühlings und die Männer hatten Mühe, sie im Zaum zu halten. Am liebsten hätten sie sich auf die Rücken der Tiere geschwungen und wären im gestreckten Galopp ins Tal hinab geritten. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, nun würde alles besser werden und die Strapazen ein Ende finden. Die Nachricht pflanzte sich vom Beginn der Kolonne bis ganz nach hinten durch, und die Herzen der Menschen schöpften neue Kraft und neuen Mut.
Liam stand auf einer kleinen Anhöhe unterhalb des Passes und sah ins Tal hinab. Er suchte nach einem geeigneten Versteck, von dem aus er den Steig hoch zum Pass gut im Blick hatte, selber aber nicht gesehen werden konnte. Er hatte heute seit Langem einmal wieder den Auftrag erhalten, eine kleine Nachhut zusammen zu stellen und sich zurückfallen zu lassen. Wanhold
Weitere Kostenlose Bücher