Torstraße 1
die Ecke biegt, dreht sie sich noch einmal um. »Mistkerl!«
Harry kommt ins Schwitzen, als er sich mit dem Paket durchs Treppenhaus schiebt. Gleich wird er sie zum ersten Mal sehen – seine Tochter! »Meine Tochter«, murmelt er und kann es nicht fassen. Beinahe hofft er, Vicky allein in ihrer kleinen Bude anzutreffen, so wie früher. Es könnte doch nur ein böser Traum gewesen sein. Ein Spuk. Gleich wird er sie in die Arme schließen, schlank und biegsam und vickyspringerlebendig wie am ersten Tag.
Da steht sie vor ihm, in der offenen Tür. Ohne dicken Bauch, sogar dünner als vorher, so kommt es ihm vor. Blass und mit tief liegenden Augen, die angstvoll auf ihn gerichtet sind.
»Vicky – mein Mädchen!« Harry stellt das Paket ab und nimmt die letzten Stufen mit einem Schritt. Er streckt die Arme nach ihr aus, doch sie weicht zurück.
»Komm rein.«
Er holt das Paket vom Treppenabsatz, folgt ihr in die Wohnung und schließt die Tür.
Vicky wartet und schweigt. Jetzt muss er die richtigen Worte sagen. Wo ist sie?!, muss er sagen – so, als ob er es keine Sekunde länger erwarten könne, sein Kind zu begrüßen. Wo ist sie, meine Kleine, mein Täubchen, mein Goldstück?
»Wie geht es dir?« Er sieht Vicky besorgt und zärtlich an. Sekunden vergehen.
»Ach, mir. Gut.«
Mit wegwerfender Handbewegung. Dann steht sie wieder steif und schweigend da. Er möchte sie in den Arm nehmen, anfassen. Prüfen, ob ihr braunes Haar sich noch anfühlt, wiees sich angefühlt hat in den langen Wochen ohne sie in seinen Träumen. Riechen, wie es riecht, wenn man die Nase in die Locken vergräbt. So oft hat er es versucht, doch nie ist es ihm gelungen, sich an den Duft zu erinnern. Er konnte sie ja nicht besuchen, in den Wochen nach der zu frühen Geburt, als sie mit dem Säugling im Krankenhaus lag. Jeder hätte ihn für den Vater des Kindes gehalten. Und das ganz zu Recht, verdammt noch mal.
Abrupt dreht sich Vicky von ihm weg, geht in ihre Wohn- und Schlafstube. Harry folgt ihr, sieht neben dem Bett die Wiege und bleibt in der Tür stehen. Dann hört er ein leises Wimmern und nähert sich langsam. Das Erste, was er von seiner Tochter sieht, ist eine kleine rote Faust, die über dem Rand der himmelblauen Wiege fuchtelt. Er beugt sich über das Bettchen. Das Kind liegt mit geschlossenen Augen da. Harry weiß nicht, was er erwartet hat, aber bestimmt nicht so winzige Augenlider, diese Stupsnase, den kahlen Kopf. Er kniet vor der Wiege nieder, legt die Arme auf den Wiegenrand, das Kinn auf die Arme und schaut.
Nach einer Weile hockt sich Vicky neben Harry auf den Boden. Dann flüstert sie in die Stille: »Beinahe wäre sie gestorben.«
Harry staunt über das Untröstliche, das darin mitschwingt. Immerhin haben sie beide vor Verzweiflung geheult, als feststand, dass Vicky schwanger war. Dann noch einmal, als heißer Rotwein und Treppenspringen nicht halfen. Nun fängt sie bei dem bloßen Gedanken, das Kind zu verlieren, neben ihm zu zittern an. Er legt den Arm um Vicky und murmelt: »Aber sie lebt ja, sie lebt.«
Da öffnet die Kleine die Augen, sieht ihrem Vater ins Gesicht und stößt einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Harry zuckt zurück, doch Vicky lacht. »Mich hat sie genauso begrüßt. Und den Rest der Welt. Nimm’s als Zeichen der Zuneigung.«
»Ich nehm es als Zeichen, dass aus dem Würmchen eine dicke, stinkreiche Opernsängerin wird.«
Harry beginnt leise zu singen, Elsas Brüllen verstummt. »Fräulein, pardon«, singt er, »ich glaub, wir kennen uns schon. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an mich.« Elsa gibt glucksende Laute von sich. Harry nimmt sie aus der Wiege auf den Arm und springt auf. »Hurra, das Kind ist musikalisch. Das ist der Beweis – ich bin der Vater!«
Als die Kleine zu weinen beginnt, nimmt Vicky sie ihm ab, setzt sich aufs Bett und wiegt sie sanft hin und her. »Wer denn sonst, Dummkopf? Vielleicht Helbig mit seinen blassblauen Glubschaugen?«
Harry lässt sich neben sie aufs Bett fallen. »Bestimmt nicht, da wär sie mit so ’ner Brille zur Welt gekommen.« Mit den Fingern vor den Augen deutet er zentimeterdicke Gläser an. Beide lachen. Dann schleicht sich etwas Ängstliches in Harrys Stimme. »Aber sag mal, wen hast du als Vater eintragen lassen?«
»Dich natürlich. Du weißt, dass ich nicht lügen kann.« Harry sieht sie entsetzt an, bis in Vickys Augen etwas aufblitzt. Das Grün wird noch grüner. Beinahe giftgrün. »Nein. Tut mir ehrlich leid für die Kleine. Aber
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