Torstraße 1
Erscheinung.
»Sie können noch so lange gucken«, sagt Vicky, »sie sieht Ihnen doch nicht ähnlich.«
Am Abend begrüßt Vicky Harry in der Wohnungstür. »Dein Vater hat gesagt, du sollst mich heiraten.«
Harry klammert sich an den Türrahmen. »Wie bitte?!« Selten hat Vicky ihn so bestürzt gesehen. Sie erzählt ihm vom Besuch mit Elsa in Grünbergs Kontor. »Mensch, lass mich wenigstens erst volljährig werden. Oder willst du, dass Vater Grünberg die Urkunde für mich unterzeichnet?«
Vicky tritt zurück und lässt ihn herein. »Gut, also nächstes Jahr. Dann können wir uns ja schon mal verloben. Oder ist das auch verboten, wenn der Herr Bräutigam noch minderjährig ist?«
Harry geht in die Stube zum Grammofon und sieht den Stapel Schallplatten durch. »Vater möchte eine wohlhabende Schwiegertochter und Mutter außerdem eine Jüdin. An beidem müssen wir noch arbeiten.« Er holt sein Portemonnaie aus der Tasche und reicht Vicky einige Scheine. »Ein Vorschuss vom zukünftigen Schwiegervater.«
Sie fragt nicht weiter nach und steckt die Scheine ein. Ein Kind kostet Geld.Die Frage nach dem unbekannten Zimmermann hat Vicky keine Ruhe gelassen. Nun ist sie allein in Grünbergs Kontor, alle anderen sind auf einer Versammlung. Wenn bloß niemand früher zurückkommt! Hastig fliegt ihr Blick über die Rücken der Aktenordner. Die Protokolle zum Bau des Jonass hat sie noch selbst getippt und abgeheftet. Irgendwo müssen doch die Namen der Zimmerleute notiert sein! Endlich findet sie die Liste. Hinter drei Namen steht in Grünbergs Schrift der Vermerk »zur Eröffnung einladen«.
Sind das Stimmen auf dem Gang? Schnell die Ordner zurückgestellt und nichts wie raus. Auf dem Weg nach Hause murmelt sie ununterbrochen die Namen, die sie nicht mehr aufschreiben konnte. Paul Kopinski, Ferdinand Voigt, Wilhelm Glaser. Paul Kopinski, Ferdinand Voigt, Wilhelm Glaser. Paul Kopinski, Ferdinand Voigt, Wilhelm Glaser.
Wilhelm Glaser ist der dritte und letzte Versuch. Sie hat die Adressen herausgefunden und drei Briefe geschrieben. Sie habe auf der Eröffnung des Kaufhauses Jonass etwas für sie persönlich sehr Wertvolles verloren und Grund zu der Annahme, es sei versehentlich in den Besitz des Adressaten gelangt. Antwort postlagernd, bei Rückgabe Finderlohn. Kopinski hat gar nicht geantwortet; Voigt, sie habe zwar nichts bei ihm verloren, doch wenn sie jung und hübsch sei, könne man sich durchaus finden. Glaser hat nur Uhrzeit und Ort für ein Treffen genannt, und nun trifft sie ihn.
Wilhelm Glaser also, denkt sie, noch während sie ihm die Hand schüttelt und zur Begrüßung seine Stimme hört. Warme, kräftige Hände, eine ruhige Stimme. An beides erinnert sie sich nun so greifbar, dass ihr vor Scham das Blut ins Gesicht schießt bei dem Gedanken, in welcher Situation dieser fremde Mann sie gesehen hat. Am liebsten würde sie sich umdrehen und hinausrennen aus dem Café. Doch Wilhelm Glaser, der sie auch gleich erkannt hat, das sieht sie an seinem Blick, nimmt ihr so höflichden Mantel ab, schiebt ihr den Stuhl zurück, als wolle er sagen: So etwas kommt eben vor. Für mich sind Sie trotzdem eine Dame. Im Übrigen habe ich gar nichts gesehen. »Wie kann ich Ihnen weiterhelfen«, fragt er sie über ihre Kaffeetasse hinweg. Und was macht sie? Sie fängt an zu weinen!
Eine Stunde später sind die Tränen getrocknet. Vicky hat ihm viel mehr erzählt über sich und Elsa, als sie jemals vorhatte. Ohne es direkt auszusprechen, hat sie ihm zu verstehen gegeben, dass der Vater aus guten Gründen unbekannt bleiben müsse, und er hat ihr zu verstehen gegeben, dass er darüber weder etwas wisse noch wissen wolle. Zugezwinkert hat er ihr dabei, und nun ist sie noch immer nicht sicher, ob er wirklich nichts weiß, jedoch so gut wie sicher, dass er sie nicht verraten wird. Und das Beste, das eigentliche Wunder, davon hat er gesprochen, nachdem ihr Redefluss endlich versiegte. Wie er die Feier verlassen wollte und nach Hause gehen zu seiner Frau und dabei zufällig an der Poststelle vorbeikam – wo die Alte mit ihren nikotingelben Zähnen ihn als vermeintlichen Vater kurzerhand zur Hilfshebamme gemacht hat. Und dass er tatsächlich Vater geworden ist am Tag der Eröffnung des Jonass, dass seine Frau zur selben Stunde zu Hause einen Sohn geboren hat!
Da musste Vicky wieder weinen vor lauter Glück und Begeisterung und wollte den kleinen Bernhard mit ihrer Elsa auf der Stelle besuchen. Die Kinder waren ja praktisch Geschwister!
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