Torstraße 1
Mutter ähnlich, Elsa sieht ausschließlich aus wie Elsa.
Auf dem kurzen Weg von der Mendelssohnstraße bis zur Lothringer denkt Vicky an ihre Cousine in Lübbenau, die von ihrem Ehemann der Untreue verdächtigt wurde. Bis zur Geburt hatte er ihr die Hölle heiß gemacht, sie bräuchte bloß nicht zu denken, er würde den Bankert eines anderen durchfüttern. Doch sobald er seinen Sohn zum ersten Mal zu sehen bekam, gab er Ruhe. Der winzige Kerl war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Vicky hebt eine Kastanie auf, die über die Mauer des Nikolaifriedhofs auf den Bürgersteig gefallen ist. Sie reibt sie mit dem Ärmel blank und reicht sie Elsa, die sie begeistert zum Mund führt. »Tja, Pech für uns beide, meine Kleene. Wär’s bei dir auch so, könnte dein Vater uns nicht verleugnen.« Auf einmal kommt sich Vicky vor wie eine Waise, die ein Waisenkind spazieren fährt. Ihr Vater war im Großen Krieg gefallen, als sie noch zur Volksschule ging, und nun haben sich auch ihre Mutter und die Brüder von ihr losgesagt. Schlimm genug, fanden sie, dass sie die Heimat verlassen hat, in den Moloch Berlin gezogen ist, in ein Viertel voller Juden und Kommunisten. Und Elsa, vor ihrer Geburt nur »die Schande« und nachher »der Bastard« genannt, hat zum Abbruch auch der letzten familiären Beziehungen geführt. Vicky wischt sich die Tränen aus den Augen und wirft eine Handvoll stachliger Kastanienschalen über die Friedhofsmauer.
Der Anblick des riesigen geschwungenen Gebäudes an der Kreuzung zur Prenzlauer Allee löst wie immer ein Hochgefühl in ihr aus – es ist schon ein kleiner Palast, dieses Kaufhaus Jonass. Und in diesem Palast ist ihre Tochter geboren. Wie hatte der Mann in Zimmermannskluft bei Elsas Geburt gesagt, als die Leuchtkugeln vor dem Fenster herabfielen? »Es muss eine Königin sein.« Sie bleibt so abrupt stehen, dass Elsa im Wagen zu weinen beginnt. Was, wenn sie nicht nur Shimmy gerufen,sondern Harrys richtigen Namen verraten hat? Wenn der Zimmermann Bescheid weiß, der bei Elsas Geburt dabei war. Was hatte er dort überhaupt zu suchen? Mit aller Kraft versucht sie sich zu erinnern, doch die Zeit zwischen ihrer Flucht ins Innere des Hauses und Elsas erstem Schrei bleibt schemenhaft und voller Lücken. Wenn er die Grünbergs kennt, sich etwas zusammenreimt? Er könnte Harry sogar erpressen. Obwohl sie ihm das nicht zutraut, so gut und beruhigend waren seine Hände und seine Stimme in ihrer Not. Trotzdem – sie muss ihn finden. Herausfinden, was er weiß.
Noch während sie mit der Kleinen auf dem Arm ins Jonass spaziert, grübelt Vicky, wie sie den unbekannten Zimmermann finden kann in einer Stadt wie Berlin. Elsa zappelt auf ihrem Arm, außer sich über die vielen Leute, Farben und Gerüche. Allen, die in ihre Reichweite kommen, winkt sie begeistert zu. Auch Frau Kurz, der sie im Gang vor den Büros begegnen. Doch die würdigt sie keines Blickes und eilt mit klappernden Absätzen davon. Vor der Tür zu Grünbergs Kontor bleibt Vicky stehen. Ihr Chef hat sie gebeten, doch mit dem Kind bei ihm vorbeizuschauen. Wenn er wüsste, wessen Kind das ist! Und wo dieses Kind geboren wurde. Sie nimmt allen Mut zusammen und klopft.
Elsa staunt den grauhaarigen Mann im dunklen Anzug an. Dann greift sie, schneller als Vicky es verhindern kann, nach Grünbergs Schnurrbart und zieht. Heinrich Grünberg befreit sich vom Griff der kleinen Faust und lacht.
»Genauso hat es unser Harry früher gemacht. Mein Bart war sein liebstes Spielzeug, bis er seine erste Dampflok bekam.«
Da ertönt in Vickys Rücken lautes Kichern. Im nächsten Moment steht Gertrud neben ihrem Vater. »Darf ich auch mal?« Sie zieht an beiden Enden des ausladenden Schnurrbarts, sodass Grünbergs Mund sich zu einer schmerzlichen Grimasse verzieht. Er schlägt seiner Tochter auf die Finger und weist ihr die Tür.
Nach einigen Minuten Geplauder sieht Heinrich Grünberg auf die Uhr. »Leider muss ich unsere Audienz beenden, Fräulein Elsa.« Er schüttelt Vicky die Hand. »Nicht vergessen, Fräulein Springer: Spätestens zum Weihnachtsgeschäft möchte Jonass Sie wiederhaben.« Mit einem forschenden Blick auf Elsa fügt er hinzu: »Es geht mich ja nicht wirklich etwas an – aber bringen Sie doch diesen Schlendrian von einem Vater dazu, ihr einen ehrlichen Namen zu verschaffen.«
Auf der Fahrt hinunter bleibt der Aufzug ruckartig stehen. Durch die geöffnete Tür tritt Gerd Helbig herein. Er starrt das Kind auf ihrem Arm an, als hätte er eine
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