Torstraße 1
werden. Nun also an diesem Morgen. Undobwohl er sicher war, dass Elisa die Fragen stellen wird, hat er sich keine Antworten zurechtgelegt. Es ging einfach nicht. Denn eigentlich weiß er auch nicht, welche Antworten der Wahrheit am nächsten kommen.
»Ich habe Elsa sehr geliebt«, sagt er dann zu seiner eigenen Überraschung. »Und es wäre gut möglich, dass wir … aus uns hätte schon ein Paar werden können.«
Er macht eine Pause und sieht Elisa an, die still dasitzt und nichts sagt. Sie lächelt, als wollte sie ihn ermuntern, sich alles von der Seele zu reden.
»Unsere Geschichte, die Geschichte unserer Eltern, hat uns sehr geprägt«, tastet er sich voran. »Es schien eine Zeit lang fast logisch, dass wir beide zusammenkommen und zusammenbleiben. Irgendwann war es dann nicht mehr so. Es war anders. Dann wieder habe ich gedacht, dass uns vor allem das Haus verbindet, diese ganze Geschichte.«
Elisa nickt und schweigt weiter.
»Und schließlich und vor allem ist dann eine Elisa in mein Leben gekommen«, sagt Bernhard und lächelt sie an. »Und ich hoffe, dass sie mir bleibt.«
Zwischenzeiten, 1999
Ergraut und abgelebt steht das Haus in der Torstraße 1. Ringsum glänzen frisch sanierte, helle Fassaden. In den umliegenden Straßen sprießen Internetcafés, Galerien und Clubs aus dem Boden. Autos, Busse und Fahrräder stauen sich auf der breiten Kreuzung zur Torstraße, die ihren ursprünglichen Namen zurückerhalten hat. Der Verkehrslärm mischt sich mit dem der Baustellen. Das ganze Viertel ist im Auf- und Umbruch, nur das riesige Gebäude an der Kreuzung verharrt in Zeiten, die sich gewendet haben und nicht wiederkehren. Acht Stockwerke graubraune Fassade, blinde, gesprungene Fensterscheiben, bröckelnder Putz. Kein Kaufhaus Jonass mehr, keine Reichsjugendführung, kein Haus der Einheit und nicht mal mehr ein Institut. Namenlos, zwecklos und leer steht das Haus da.
Ein Mädchen und drei Jungen sind nachts eingestiegen und schleichen durchs Treppenhaus, Spraydosen im Gepäck. Sie leuchten mit Taschenlampen in die Räume, steigen über Bretter und Balken. Etagen, Seitenflügel, Zimmer – wie in einem Labyrinth fühlt man sich hier im dunklen und leeren Innern, doch ganz ohne roten Faden. Es scheint, als seien sie nicht die ersten Eindringlinge, nachdem die Mannschaft das Schiff fluchtartig verlassen hat.
Im halbrunden Raum mit der holzgetäfelten Decke stehen die Türen der Einbauschränke offen. Auf dem Parkettfußboden verstreut liegen vergilbte Papiere und Matrizen, ein Stapel löchriges Briefpapier mit dem Briefkopf des Instituts für Marxismus-Leninismus.Ein anderes Zimmer sieht aus, als sei eben erst jemand nach Hause gegangen, der nicht daran zweifelt, morgen wiederzukommen. Vor dem Schreibtisch ein zurückgeschobener Stuhl. Stifte, Büroklammern, ein Wasserglas erscheinen im Licht der wandernden Taschenlampen.
Gemeinsam mit den Flüchtenden und Eindringlingen hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Von mancher abgehängten Decke sind nur die Kunststoffrippen geblieben. Der Dielenboden schlägt Wellen wie nach einer Überschwemmung, von den Wänden blättert der moosgrüne Anstrich in dicken Placken, die den Raum überwuchern. Von der Decke baumelt ein braungrüner Kabelstrang.
Endlich sind die vier oben angekommen. Das oberste Stockwerk ist zurückgesetzt, rundherum verläuft eine Reling. »Pass auf, Katia!«, ruft einer der Jungen, als das Mädchen als Erste den Ausstieg aus dem Fenster wagt. Dann stehen sie alle nebeneinander, schauen hoch aufs Dach, auf dem ein Schornstein und kleine Birken wachsen.
»In diesem Haus«, sagt das Mädchen, während sie ihre Spraydose schüttelt, »ist unsere Oma geboren.«
Auf Wiedersehen, au revoir, goodbye
Endlich hat Elsa das Ende des langen Weges erreicht. Sie nimmt die letzte Stufe in Richtung Dachterrasse und Himmel, öffnet die Tür und tritt ins Freie.
An diesem Abend, zur Eröffnung des Soho House Berlin, stehen die Glastüren der Bar zur Terrasse hin offen. Warmer Wind weht ihr entgegen, ein Gemisch aus Parfüm und Essensgerüchen, ein Gewirr aus Stimmen, Gelächter und Musik. An Bistrotischen und in Loungesesseln sitzen Clubmitglieder und geladene Gäste. Vielleicht auch ein paar ungeladene wie sie selbst, denkt Elsa und schüttelt den Kopf. Nein, die sehen alle so geladen aus. Wie sie auf Barhockern sitzen und Cocktails schlürfen, sich auf bettähnlichen Sofas räkeln, auf dem weißen Stoff, ohne die Schuhe auszuziehen. Sie sucht noch immer
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