Torstraße 1
»Lassen wir die Kuh auf dem Eis und gehen schlafen.«
Der Kollege kichert. »Lassen wir die Kuh«, wiederholt er noch im Paternoster immer wieder, »auf dem Eis.«
Am Sonntag kommt Elisa tatsächlich zurück nach Hause. Bevor Bernhard zum Dienst muss, schließt sie die Wohnungstür auf und steht mit ihren beiden großen Taschen im Flur. Und mit einem seltsamen Gebilde um den Hals, das ihr bis zu den Knien baumelt. »Adventskalender«, sagt Elisa, als sei das fürjedermann offensichtlich. »Die ersten drei Tage kannst du schon essen.«
Bernhard ist jetzt aber gar nicht so nach Schokolade zumute. Er küsst Elisa, bis ihr die Luft ausgeht, zieht sie ins Wohnzimmer und fummelt an ihrem dicken Mantel, bis die Knöpfe endlich offen sind, auch die Bluse hat eine Menge Knöpfe, der BH Haken und Ösen, ein Adventskalender ist nichts dagegen. Elisa lässt sich aufs Sofa fallen, und genau dafür ist das Riesenstück von Couch dann wieder gut. Zwei alte Leute, die schon an dem einen und anderen Zipperlein leiden, können hier gut und gern so tun, als seien sie wieder neunzehn, unsterblich und unsterblich verliebt.
»Ich denke, du musst zum Dienst«, flüstert Elisa und fingert an Bernhards Gürtel herum. Der knurrt etwas, das ja oder nein heißen kann, und zwanzig Minuten später liegen sie zerrupft nebeneinander.
Elisa streichelt über Bernhards Bauch. »Wo ist dein Bauch?«, klagt sie, »du bist ja richtig dünn geworden. Ich kann nur einen Mann mit Bauch lieben.«
Bernhard lächelt. »Das bekommen wir schon wieder hin.« Er küsst Elisa auf ihren nackten Bauch, der sich klebrig anfühlt, und zieht sich an, um endlich in die Redaktion zu gehen. »Die werden wissen wollen, ob ich krank bin«, sagt er, als das Telefon klingelt. Nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hat, erklärt er Elisa: »Schalck-Golodkowski ist abgehauen.«
»Hat der nicht nebenan gewohnt?«, will sie wissen.
Bernhard nickt. »Einen Block weiter. Ein Mann mit einem ordentlichen Bauch. Wäre eigentlich was für dich gewesen.« Elisa rümpft die Nase. Bernhard verspricht, abends spätestens um neun wieder da zu sein. »Soll ich uns dann Makkaroni mit Tomatensoße kochen?«
Elisa schüttelt den Kopf. »Ich glaube, das müssen wir auf morgen verschieben. Ich will heute Abend in die Volksbühne zu einem Weibertreffen.«
Bernhard fragt nicht nach. Er will nicht, dass man sich gleich am ersten Tag des neuen Lebens womöglich über Politisches streitet. Soll Elisa zu ihrem Weibertreffen gehen. Er wird in der Kantine essen. Roni mit Dose vermutlich.
An diesem Tag stellt er überrascht und besorgt fest, dass es gar nicht so einfach ist, einen ganzen Dienst ohne Alkohol durchzustehen. Bernhard nimmt die zwei Flaschen Schnaps aus dem Schreibtisch und überlegt, ob er sie ins Nachbarzimmer zu den Kollegen von der Wirtschaft bringt, gießt stattdessen den Inhalt ins Waschbecken und wirft die Flaschen auf der Toilette in den Müll. Später fragt er eine Kollegin, was das am Abend für eine Veranstaltung in der Volksbühne sein wird und ob sie da hingeht. Die nickt begeistert und sagt, dass es ja wohl an der Zeit sei, dass die Frauen sich zu Wort melden und ihre politischen Forderungen aufmachen. Was auch immer damit gemeint ist, er geht lieber auf Jagd nach Golodkowski.
Die Tage werden durch Elisas Anwesenheit ruhiger und weniger angstvoll. Es ist gut, nach Hause zu kommen und jemanden zum Reden zu haben. Es ist gut, nicht allein zu sein. Und bald ist Weihnachten. Trotz aller Wirrnisse und Unsicherheiten fangen die Leute an, sich in Stimmung zu bringen. Der Weihnachtsmarkt ist voll wie jedes Jahr, die Hatz nach Geschenken hat pünktlich begonnen, die Tage sind kurz und dunkel, fast könnte man meinen, es sei ein Jahr wie jedes andere. Es gibt weiterhin jeden Tag Enthüllungen und Entrüstungen, aber es ist auch Adventszeit. Elisa holt die alte Weihnachtspyramide aus dem Keller, kauft tatsächlich einen Schwibbogen, den sie ins Fenster zur Straße stellt, fängt an, Pläne zu schmieden für den Heiligen Abend. Sie möchte, dass dieses Jahr Luise und Uwe kommen, Bernhard kann sich nicht vorstellen, dass die es so wollen, aber er überlässt alles Elisa. Soll sie Wunder vollbringen, er kann es gebrauchen.
An den Wochenenden geht sie in ein nahe gelegenes Krankenhaus, um dort auszuhelfen. Sie putzt Krankenzimmer, teilt Essen aus und leert Bettpfannen. Es fehlen Krankenschwestern, Ärzte, Pfleger, und Elisa ist nicht die Einzige, die unentgeltlich ein paar Dienste
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