Torstraße 1
Diskussionen, hatte nie eine Chance. Die Stadt Berlin konnte oder wollte, wer wusste das schon genau, das Gebäude nicht kaufen. Und die Mitglieder der Bürgerinitiative erst recht nicht. Auch Stephanie und Jonas waren ihr beigetreten und später, das würde sie ihm niemals vergessen, beinahe sogar Bernhard. Dabei hätten sie sich darüber um ein Haar zerstritten, ausgerechnet bei ihrem ersten Wiedersehen nach Öffnung der Mauer. »Du willst aus meinem Arbeitsplatz ein Museum machen?«, hatte er sie angefahren. »Für dich sind wir also schon tot und vorbei?« Doch nachdem auch das Parteiarchiv und mit ihm die letzten Mitarbeiter aus der Torstraße ausgezogen waren, hatte Bernhard seine Meinung in der Sache geändert. Solange die Geschichte des Hauses in ihrer Komplexität dargestellt würde, hatte er gemeint, und man Sozialisten und Nazis nicht als das Böse schlechthin in einen Topf warf – da wäre es vielleicht nicht verkehrt, auch Leute wie ihn dabeizuhaben. Aber das sahen ihre Mitstreiter anders. Leute wie Bernhard, fanden sie, hätten lange genug am Hebel gesessen und bei ihnen nun nichts mehr zu sagen und zu suchen. Da war auch sie wieder ausgetreten.
Und während sie an all das zurückdenkt, wird ihr klar, dass es in diesem Trubel nur einen Ort gibt, wo sie ihn finden wird. Wenn Bernhard mit seiner Scheu vor Menschenmengen es hier irgendwo aushält, dann an der Brüstung der Terrasse, wo man den Blick in die Ferne schweifen lassen kann. So bahnt sie sich einen Weg durch die Gäste, die in Paaren und Gruppen beisammenstehen.
Endlich hat sie die Brüstung erreicht, hält sich am Geländer fest und atmet tief ein. Die halbe Stadt liegt einem hier oben zuFüßen. Das Licht der Abendsonne fällt auf die Kuppel des Doms, spiegelt sich kupferfarben in den Fensterfronten am Alexanderplatz, beleuchtet Glasfassaden und Ziegeldächer, Werbeplanen, Baukräne und Kirchtürme. So prächtig ist der Ausblick auf diese hässliche, herrliche Stadt, dass es weh tut, ihn mit niemandem zu teilen.
Da setzt über das Gewirr der Stimmen hinweg die Band ein, und Elsa hält es nicht mehr aus, zwischen all diesen Menschen allein zu sein. Sie muss ihn finden! Bernhard. Wo ist er? Sie muss jetzt und hier zu diesem Lied mit ihm weinen.
Endlich hat er sie gefunden. Elsa steht an der Brüstung der Dachterrasse und schaut in die Ferne. Erst will er rufen, die letzten Meter zu ihr laufen, doch dann bleibt er stehen und betrachtet sie. Ein großes Tuch hat sie um die Schultern gelegt, sich darin eingewickelt, als sei es Schutz und Trost zugleich. Ein wenig kleiner scheint sie geworden zu sein seit ihrer letzten Begegnung, ein bisschen rundlicher. Das Haar trägt sie kurz geschnitten, ein paar hellbraune Strähnen zwischen den weißen, noch vor wenigen Jahren war es umgekehrt. Nur ihre Augen kann er nicht sehen, und plötzlich wünscht er nichts mehr, als dass sie aufschaut und ihn entdeckt. Wünscht sich, dass sie zuerst überrascht ist und dann das schöne Elsalächeln über ihr Gesicht huscht, und in dem Moment schaut Elsa ihn an. Gar nicht überrascht schaut sie, und das schöne Elsalächeln huscht nicht, sondern breitet sich in ihrem ganzen Gesicht aus und bleibt.
Im nächsten Augenblick ist er bei ihr an der Brüstung. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, rufen beide zugleich und fallen sich in die Arme.
»Wünschen«, sagt Elsa. »Wir dürfen uns was wünschen.« Dann sagen sie eine Weile nichts mehr.
»Ich bin so froh, dass du hier bist«, murmelt Bernhard undstreicht der Frau, die zur selben Stunde geboren wurde wie er, über den Rücken. Wie weich Elsa sich anfühlt. Wie sonderbar, dass wir uns über all die Jahrzehnte hinweg nie ganz aus den Augen verloren haben, denkt er. Als sei der Umstand unserer Geburt immer festes Band genug gewesen. Und weil das Band nie gerissen ist, stehen sie heute hier. Bernhard und Elsa. Die beiden ältesten Zeitgenossen weit und breit.
»Schau nur«, sagt sie, »schau nur.« Mit der einen Hand hält sie das Tuch um die Schultern, mit der anderen zeigt sie in einem weiten Bogen auf die Dächer der Stadt. »Von hier hat man so einen Blick, Bernhard. Unendlich weit.«
Bernhard fühlt Traurigkeit in sich wachsen. Als könne man mit achtzig noch seinem toten Vater nachtrauern, der immer die gleiche Armbewegung gemacht hatte, um zu zeigen, wie man sich oben auf dem Dach des Kaufhauses Jonass fühlte.
»Bist du früher oft hier oben gewesen?«, fragt Elsa. »Als du hier gearbeitet
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