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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Jahrzehnt vor ihm geboren, die Jahre weit besser überstanden, jene Ingrid Liepold, die nicht nur in den Bann der Entkleidungskunst geraten war, sondern auch der Physik und der Mathematik, zudem gerne unter jungen Leuten war, auch gerne in der Nähe des nicht mehr ganz so jungen, aber durchaus flotten Genies auf dem Podium.
    Wedekind war in Panik, sein Erinnerungsvermögen versagte. Ingrid Liepold jedoch hatte keine Sekunde gezweifelt, daß es sich bei der leicht vergammelten Gestalt um Graham Wedekind handelte, auch wenn sie ihn nie ungepflegt gesehen hatte, das war nicht seine Art gewesen. Seine Art war es gewesen, durchschnittlich und langweilig zu sein, Krimineller hin oder her. Vielleicht erkannte sie das einzig Markante an ihm, sein Kinn, obwohl ein Bart es verdeckte. Sein Wurmfortsatz im Gesicht, wie sie oft gesagt hatte. Oder seine Art, beim Gehen die Schultern heftig mitzubewegen, weshalb sein Gang maschinell anmutete. Sie hatte ihn geliebt, allerdings ohne große Begeisterung. Seine Bescheidenheit war ihr beizeiten auf die Nerven gefallen, seine Zurückhaltung, seine Unart, ihr in jeder Hinsicht den Vortritt zu lassen – aus Faulheit, so ihre Vermutung. Gutmütig waren Männer immer nur dann, wenn sie zu bequem waren, um etwas anderes als gutmütig zu sein. Gerne hatte er sie reden lassen. Aber sie war überzeugt gewesen, daß er nicht zuhörte, daß solche Männer nur Beziehungen eingingen, um eben eine Stimme als Stimme um sich zu haben, natürlich auch, um nicht alleine vor dem Fernseher sitzen zu müssen, Männer, die nach einiger Zeit begannen, ihre Frau »Mama« zu rufen. Und ab dann auch keinen Sex mehr haben wollten, nicht mit einer Frau, die sie für ihre Mutter hielten. Dennoch: Sie wäre bereit gewesen, ihn zu heiraten. Hin und wieder tat sie derartiges, wie man hin und wieder ins Museum geht. Doch das Gefängnis kam dazwischen. Worüber Ingrid Liepold dann doch nicht unglücklich gewesen war. Sie hatte das Gefühl gehabt, entkommen zu sein. (Wem sie freilich nicht entkommen war, das war ihre Mutter.)
    Gut, es hatte ihr leid getan, als man ihn verurteilte. Nicht daß sie wußte, wofür. Irgendein Schnitzer eben. Einmal schickte sie ihm eine Karte: Kopf hoch, oder so ähnlich. Das war es dann gewesen. Abgehakt. Dennoch, nach all den Jahren hatte sie ihn sofort wiedererkannt. Konnte aber genausowenig ahnen, inwieweit sie und Graham in dieselbe Geschichte verstrickt waren und daß der Zufall ihres Zusammentreffens sich ein wenig gewollt ausnahm. Aber das tun Zufälle ja meistens.
    Natürlich hatte Liepold von den Morden und der Explosion gehört. Daß ein gewisser Vavra sich unter den Opfern befunden hatte, war jedoch nirgends erwähnt worden. Und so konnte sie nicht wissen, wie knapp sie dem Tod entkommen war. Denn eigentlich hatte sie damals beschlossen gehabt, sich an den weder auf äußerliche noch charakterliche, sondern auf dubiose Weise attraktiven Vavra anzuhängen und ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen, ihn, den sie ja als ihr Publikum empfand. Sie wollte dieses Publikum fesseln, und zwar rund um die Uhr. Gerade die Umstände jener aufregenden Nacht, in welcher Magister Holt durch die Tür gekommen war, hatten Liepold für Vavra begeistert. Der belanglose Spießer war ihr mit einem Mal als rätselhafte Figur erschienen und solcherart vom kleinen zum großen Publikum mutiert. Doch hatten die Geschehnisse auch dazu geführt, daß Liepold morgens nicht rechtzeitig aus dem Bett gelangt war, Vavras Auszug verpaßt und ihn nie wieder zu Gesicht bekommen hatte.
    Auf die Weise war Ingrid Liepold aus der Geschichte herausgefallen, wodurch ihr das Schicksal Else Reseles erspart geblieben war. Resele, der es gelungen war, an Cerny klebenzubleiben. Bis in den Tod hinein.
    Ebenso ahnungslos stieg Liepold nun kurz in die Geschichte wieder ein, indem sie mit ihrer dunklen Stimme »Graham!« gesagt hatte, woraufhin Wedekind erstarrt war, sozusagen vom Schrecken tiefgefroren, während auch der Vortragende sich unterbrach und begeistert hinauf zu Liepold sah, dann, schon weniger begeistert, zu dem Mann, der Graham hieß und der die Aufmerksamkeit einer solchen Frau doch wohl kaum verdiente.
    »Was wollen Sie?« schnauzte er in Richtung des Störenfrieds, den jetzt die innere Hitze aus der Starre löste. Wedekind nahm die letzten Stufen in einem Sprung und sprintete los in Erwartung einer Kugel, die ihn einholen und niederstrecken würde. Auch als er längst durch eine rückwärtige Tür hinaus auf den

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