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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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war, einen dunkelgrünen Anzug trug, eine Krawatte mit volkstümlicher Musterung, das dunkle Haar mit einem breitzahnigen Kamm penibel nach hinten frisiert. Auch er hatte ein Zupfinstrument unter den Arm geklemmt. Wedekind glaubte in dem Mann einen nicht unbedeutenden ehemaligen Flügelstürmer einer nicht unbedeutenden Fußballmannschaft zu erkennen, einen Spieler, der Anfang der neunziger Jahre seine beste Zeit gehabt hatte, um dann, wegen eines einzigen Eigentors – das ihm als gewollt, als bösartig angelastet wurde –, für immer aus der Mannschaft genommen zu werden. Ein damaliges Mitglied des Präsidiums hatte von Häresie gesprochen. Ein schönes Wort, das für einige Zeit wieder in Mode gekommen war.
    Dieser Mann, wenn es wirklich derselbe war, befand sich nun ebenfalls auf Höhe der weiblichen Ausdehnung, freilich an deren Rand, lächelte Wedekind zu und sagte: »Sie sind fremd hier, nicht wahr? Kommen Sie.«
    Wedekind löste sich aus der wohligen Bedrängnis wie aus einem gelatinösen Cockpit und folgte dem anderen. Durch die Gänge hallten bereits sich behindernde Versionen des Harry-Lime-Themas. Wedekind verkniff sich die Frage, ob der andere jener in Vergessenheit geratene Fußballer sei. Woran er übrigens gut tat. Denn es handelte sich bloß um eine Ähnlichkeit, unter welcher der Zitherspieler beträchtlich litt. Und bei aller Freundlichkeit neigte er gelegentlich zu Wutanfällen, im Zuge derer er gerne einen Hirschfänger aus dem Resonanzkasten seiner Zither holte. Den Herrn Wedekind aber geleitete er durch ein Kellergewölbe und eine Krankenanstalt hinaus auf die Lazarettgasse, wünschte noch einen schönen Tag und war auch schon wieder verschwunden. Ein komischer Heiliger, wie man so sagt. Eine von diesen Gestalten, die immer nur, und immer nur kurz, in fremden Geschichten aufzutauchen pflegen und die eine eigene Geschichte, wenn überhaupt, eben bloß durch eine ungeliebte Ähnlichkeit vortäuschen.
    Als nun Wedekind in jene Gasse, an deren Ende sich die quasi literarische Stiege befand, einbog, fiel ihm ein Gebäude auf, dessen zur Währingerstraße weisender, schmaler äußerer Trakt sich vom Rest unterschied, indem er baufällig war, noch baufälliger als der Komplex an sich. Die Zierteile waren aus der Fassade gebrochen, Mauerwerk blätterte ab, und die Fenster sahen aus, als würden sie demnächst aus ihren Rahmen fallen. Die Gläser waren blind vom Dreck. Über dem Hauptportal wies ein Schriftzug das Gebäude als Physikalisches Institut der Universität Wien aus. Bei dessen desolater Flanke handelte es sich um die Abteilung Theoretische Physik und das Mathematische Seminar.
    Die letzte Nacht und das vormittägliche Herumirren hatten Wedekind derart erschöpft, daß er sich jetzt entschloß, in diesem vernachlässigten Nebentrakt, der koketterweise den Eindruck vermittelte, weniger von einem Gesetz als einer Vermutung zusammengehalten zu werden, einen Unterschlupf zu suchen, um sich ausnahmsweise einem Mittagsschlaf hinzugeben.
    Das Tor zur Theoretischen Physik befand sich in einem vergleichsweise intakten Zustand, ein Eindruck, der noch dadurch bestärkt wurde, daß es verschlossen war. Wedekind zögerte kurz, dann machte er ein paar Schritte und betrat das Gebäude durch den Haupteingang. In der Halle, die das Flair einer ehemals mondänen, nun etwas schäbigen Lungenheilanstalt besaß, standen einige Studenten herum, deren vom Denken eingefallene Gesichter und schulterlose Haltung gut in ein Sanatorium gepaßt hätten. Wedekind stieg einige Stufen hinab und trat hinaus auf den Hof, der sich als Baustelle erwies, auf der – ganz im Einklang mit einem hiesigen Vorurteil – kein einziger Arbeiter zu sehen war. Die Rückseite der Theoretischen Physik war frisch geweißt. Die Scheiben hatte man auf so vorbildliche Weise gereinigt, daß sich schwer eine dunkle Seite der Wissenschaft denken ließ. Dort aber, wo Wedekind den Hintereingang vermutete, klaffte eine mit Gitter abgesperrte Baugrube. Er begab sich zurück in die Halle, wobei er übersah, daß er denselben Weg, den er gekommen war – so kurz dieser auch sein mochte –, nun zurückging, wodurch er das geheiligte Prinzip, auf dieser Flucht niemals umzukehren und keine Stelle zweimal zu betreten, durchbrach. – Nach seiner Anschauung wurde mittels einer solchen Wiederholung eine jede Flucht ad absurdum geführt, war dann eben keine Flucht mehr, sondern irgend etwas Undefinierbares, Unförmiges, eine Fluchtentartung. Da er jedoch

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