Total Recall
Hauptschule hatte ich ein Erlebnis, das mir eine Vorstellung von meiner Zukunft vermittelte. Und das ausgerechnet bei einem Aufsatz in der letzten Schulwoche! Der Geschichtslehrer wählte immer vier oder fünf Jungen aus, denen er eine Zeitung in die Hand drückte. Wir mussten dann einen Aufsatz über einen unserer Ansicht nach interessanten Artikel oder ein besonderes Foto schreiben. Dieses Mal war ich an der Reihe und bekam den Sportteil. Darin war ein Foto von Mister Austria, Kurt Marnul, abgebildet, der einen Rekord beim Bankdrücken aufgestellt hatte – 190 Kilo. Mich faszinierte diese Leistung. Was mich aber besonders beeindruckte, war, dass er eine Brille trug. Eine markante Brille mit leicht getönten Gläsern. Eine Brille brachte ich eigentlich mit Intellektuellen in Verbindung, mit Lehrern und Geistlichen. Und doch stemmte Kurt Marnul in seinem Trägerhemd, mit seiner schmalen Taille und dem gewaltigen Brustkorb ein enormes Gewicht – und trug dabei eine Brille. Ich starrte auf das Bild. Wie konnte jemand, der vom Hals an aufwärts aussah wie ein Professor, 190 Kilo beim Bankdrücken bewältigen? Darüber schrieb ich meinen Aufsatz. Ich las ihn laut vor und freute mich, dass die anderen amüsiert lachten, aber insgeheim war ich schwer beeindruckt davon, dass ein Mann gleichzeitig klug und stark sein konnte.
Zusammen mit meinem neuen Interesse an Mädchen wurde ich mir zunehmend meines eigenen Körpers bewusst. Ich begann, mich noch mehr für Sport zu interessieren. Ich sah mir die Athleten genau an und wollte wissen, wie sie trainierten und ihren Körper einsetzten. Ein Jahr zuvor hatte mir das noch nichts bedeutet, jetzt bedeutete es mir alles.
Gleich nach Schulschluss machten sich meine Freunde und ich auf dem kürzesten Weg auf zum Thalersee. Hier verbrachten wir den Sommer. Wir schwammen, lieferten uns Schlammschlachten oder spielten Fußball. Ich fand schnell neue Bekannte unter den Boxern, Ringern und anderen Sportlern. Ein Jahr zuvor hatte ich Willi Richter kennengelernt, einen Rettungsschwimmer, der Anfang zwanzig war. Ich durfte ihm assistieren und bei der Arbeit helfen. Willi war ein guter Allroundsportler. Wenn er keinen Dienst hatte, begleitete ich ihn beim Training. Er absolvierte ein umfassendes Programm, bei dem er den Park als Sportplatz benutzte, sich an den Ästen der Bäume zu Klimmzügen hochzog, auf der Wiese Liegestütz und Kniebeugen machte, über die Wege sprintete und seine Sprungkraft mit Sprüngen aus dem Stand trainierte. Zwischendurch präsentierte er mir hin und wieder seine Bizeps, was toll aussah.
Willi war mit zwei Brüdern befreundet, die eine Menge Muskeln hatten. Der eine war bereits Student, der andere war ein bisschen jünger. Sie machten Gewichtheben und Bodybuilding, und am Tag, an dem ich sie kennenlernte, trainierten sie gerade Kugelstoßen. Sie fragten, ob ich es auch versuchen wolle, und zeigten mir die Technik und die Schritte. Danach gingen wir zu einem Baum, wo Willi wieder seine Klimmzüge machte. Irgendwann fragte er: »Warum versuchst du es nicht auch einmal?« Ich konnte mich kaum festhalten, weil der Ast sehr dick war und man wirklich Kraft in den Fingern brauchte. Ich schaffte einen oder zwei Klimmzüge und ließ mich dann fallen. Willi sagte: »Wenn du den ganzen Sommer trainierst, garantiere ich dir, dass du zehn schaffst. Das wäre doch ein schöner Erfolg. Und ich wette, dass deine Rückenmuskeln auf jeder Seite um einen Zentimeter zulegen würden.«
Ich dachte: »Das klingt gut. Und nur von einer einzigen Übung.« Dann rannten wir den Hang hinauf und zogen das restliche Programm durch. Von da an absolvierte ich jeden Tag mit ihm zusammen seine Trainingsrunde.
Ein Jahr zuvor hatte Willi mich zur Weltmeisterschaft im Gewichtheben nach Wien mitgenommen. Wir waren zusammen mit anderen im Auto unterwegs. Die Fahrt nach Wien dauerte normalerweise etwa vier Stunden, aber wir brauchten länger als gedacht und kamen erst zum letzten Wettkampf an, dem Gewichtheben in der Kategorie Superschwergewicht. Der Sieger war ein riesiger Russe namens Juri Wlassow. Tausende Zuschauer schrien und jubelten, als er 190,5 Kilo beidarmig über seinen Kopf drückte. Nach dem Gewichtheben gab es einen Bodybuilding-Wettbewerb um den Titel des Mister World. Hier sah ich zum ersten Mal, wie eingeölte Männer die Muskeln aufpumpten und verschiedene Posen einnahmen, um ihren Körper zur Geltung zu bringen. Nach dem Wettkampf gingen wir hinter die Bühne und trafen
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