Total Recall
Rad konnte ich mir leisten. Niemand in unserer Familie hatte ein Fahrrad – mein Vater hatte seins nach dem Krieg gegen Lebensmittel eingetauscht und sich nie ein neues gekauft. Mein Rad war zwar nicht perfekt, aber für mich bedeutete es Freiheit.
Kapitel 2
Erstes Krafttraining
Von meinem letzten Jahr auf der Hauptschule sind mir vor allem die Zivilschutzübungen in Erinnerung geblieben. Wir lernten, dass im Falle eines Atomkriegs die Sirenen heulen würden und wir die Bücher zuklappen und unter unseren Tischen in Deckung gehen sollten, mit dem Kopf zwischen den Knien und fest zugekniffenen Augen. Selbst einem Kind war klar, wie wirkungslos das war. Aber wir übten trotzdem. Wir bereiteten uns für den Ernstfall vor, das war immerhin etwas.
Im Sommer hatten wir alle wie gebannt das Gipfeltreffen zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow in Wien am Fernsehbildschirm verfolgt. Nur wenige Familien hatten einen Fernseher, aber wir alle kannten ein Elektrogeschäft am Lendplatz, das zwei Fernsehgeräte im Schaufenster stehen hatte. Vom Gehsteig aus schauten wir uns die Berichte über das Treffen an. Kennedy war noch nicht einmal sechs Monate im Amt, und die meisten Experten hielten es für einen schweren Fehler, sich so früh mit dem redegewandten und gerissenen Chruschtschow zu treffen. Wir Kinder hatten dazu keine Meinung, außerdem stand der Fernseher ja im Laden, also gab’s nur Bilder, keinen Ton. Aber wir sahen zu! Wir waren dabei!
Die Situation schien uns damals sehr bedrohlich. Sobald es zwischen der Sowjetunion und den USA Konflikte gab, hielten wir unser Schicksal für besiegelt. Wir dachten, Chruschtschow würde sich an Österreich vergreifen, weil es unmittelbar an den Ostblock grenzte – daher hatte das Gipfeltreffen ja auch in Wien stattgefunden. Die Gespräche verliefen nicht gut, Kennedy reiste ab. Als dann im Herbst in Berlin die Mauer gebaut wurde, sagten viele Erwachsene: »Das war’s.« Mein Vater wurde mit Uniform und kompletter Militärausrüstung an der Grenze stationiert und blieb dort eine Woche lang, bis sich die Situation wieder beruhigt hatte.
Wir lebten unter großer Anspannung. Die Zivilschutzübungen nahmen zu. Die dreißig Jungen in meiner Klasse strotzten nur so vor Testosteron, aber keiner wollte einen Krieg. Unser Interesse galt mehr den Mädchen. Sie waren für uns ein Rätsel, vor allem für Jungs wie mich, die keine Schwester hatten. In der Schule sahen wir sie nur in der Pause auf dem Hof, sie wurden ja in einem anderen Gebäudeteil unterrichtet. Wir waren zwar mit ihnen aufgewachsen und kannten sie schon unser ganzes Leben lang, aber plötzlich wirkten sie wie Außerirdische. Wie redete man mit ihnen? Wir waren in einem Alter, in dem wir zum ersten Mal die sexuelle Anziehungskraft spürten. Allerdings äußerte sie sich auf seltsame Weise – etwa, indem wir die Mädchen eines Morgens auf dem Schulhof mit Schneebällen bombardierten.
An dem Tag hatten wir in der ersten Stunde Mathematik. Anstatt mit dem Unterricht zu beginnen, sagte der Lehrer: »Ich habe euch draußen gesehen. Darüber sollten wir mal reden.«
Wir befürchteten, dass er uns bestrafen würde – es war derselbe Lehrer, der meinem Freund praktisch die Schneidezähne eingeschlagen hatte. Aber heute war er nicht zu Gewalttätigkeiten aufgelegt. »Ihr Jungs möchtet, dass die Mädchen euch mögen, richtig?« Ein paar von uns nickten. »Das ist ganz natürlich, denn wir lieben das andere Geschlecht. Irgendwann wollt ihr sie küssen, wollt sie umarmen und Liebe machen. Wollen das nicht alle hier?«
Jetzt nickten schon mehr. »Meint ihr, dass es dann sinnvoll ist, einem Mädchen einen Schneeball ins Gesicht zu werfen? Wollt ihr damit eure Liebe zeigen? Wollt ihr so sagen: ›Ich mag dich‹? Also wirklich!«
Nun hatte er unsere ganze Aufmerksamkeit. »Als ich die ersten Annäherungsversuche bei Mädchen unternommen habe, da habe ich ihnen Komplimente gemacht, ich habe sie geküsst und sie im Arm gehalten und ihnen ein gutes Gefühl gegeben. Das hab ich gemacht.«
Von unseren Vätern redeten die wenigsten so mit ihren Söhnen. Wir begriffen. Wenn man ein Mädchen haben wollte, musste man sich um ein nettes Gespräch bemühen und sie nicht ansabbern wie ein Hund. Man musste dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlten. Ich war einer von denen gewesen, die Schneebälle geworfen hatten. Nun nahm ich die Ratschläge des Lehrers gerne an und prägte sie mir gut ein.
Im letzten Jahr auf der
Weitere Kostenlose Bücher