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Total Recall

Total Recall

Titel: Total Recall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karlheinz Dürr (VS Mihr)
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Betonwänden, Leuchtstoffröhren an der Decke und einer ganz einfachen Ausstattung: Lang- und Kurzhanteln, Klimmzugstangen und Hantelbänken. Überall sah man kräftige Männer, die schnaufend Gewichte stemmten. Die Jungs vom See zeigten mir ein paar grundlegende Übungen, dann trainierte ich die nächsten drei Stunden lang fröhlich Bankdrücken und Knie- und Armbeugen mit Gewichten.
    Normalerweise macht ein Anfänger bei jeder Übung drei Sets mit zehn Wiederholungen, damit sich die Muskeln an die Belastung gewöhnen. Aber das hatte mir niemand gesagt. Ich machte daher zehn Sets von jeder Übung. Danach ging ich zufrieden duschen. Fließend Wasser hatten wir daheim nicht, und ich freute mich immer auf die Dusche im Fußballstadion, auch wenn es nur kaltes Wasser gab. Dann zog ich mich an und ging nach draußen.
    Meine Beine fühlten sich ein bisschen wacklig und schwer an, aber darüber machte ich mir keine großen Gedanken. Doch als ich aufs Fahrrad stieg, fiel ich gleich wieder runter. Das war seltsam. Meine Arme und Beine kamen mir vor, als ob sie keine Verbindung zum übrigen Körper hätten. Ich stieg wieder aufs Rad, konnte aber den Lenker kaum gerade halten. Meine Oberschenkel zitterten, als ob sie aus Gummi wären. Unkontrolliert schwankend fuhr ich mit dem Fahrrad an den Straßenrand und fiel in den Graben. Es war schrecklich. Am Ende musste ich nach Hause laufen, eine mühsame, über sechs Kilometer lange Wanderung. Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, bis ich wieder im Kraftraum war, um weiterzutrainieren.
    Dieser Sommer war sehr prägend für mich. Ich existierte nicht mehr nur, ich begann zu leben. Ich wurde aus der öden Routine hinauskatapultiert, die meinen Alltag bisher bestimmt hatte – wo ich aufstand, beim Nachbarn die Milch holte, nach Hause kam, meine Liegestützen und Sit-ups machte, während meine Mutter das Frühstück zubereitete und mein Vater sich für die Arbeit fertig machte – ein Alltag, der kaum etwas bot, worauf man sich freuen konnte. Doch jetzt gab es in meinem Leben Freude, Anstrengung, Schmerz, Glück, Vergnügen, Frauen, Leidenschaft. Ich dachte: »Das ist das wahre Leben! Das ist sensationell!« Ich schätzte zwar meinen Vater als Vorbild, bewunderte seine Disziplin und war voller Anerkennung für das, was er in seinem Beruf, im Sport und in der Musik erreicht hatte, doch allein weil er mein Vater war, minderte sich die Bedeutung dieser Dinge für mich. Plötzlich hatte ich ein ganz neues Leben, und es war mein Leben.
    Im Herbst 1962 begann ein neues Kapitel in meinem Leben. Ich war fünfzehn Jahre alt, kam auf die Berufsschule in Graz und fing eine Lehre an. Obwohl ich noch zu Hause wohnte, ersetzte mir das Training mehr und mehr die Familie. Die Älteren halfen den Jüngeren. Wenn man etwas falsch machte, kamen sie dazu und korrigierten die Haltung. Karli Gerstl war einer meiner Trainingspartner, und gemeinsam erfuhren wir, was für eine Freude es sein kann, sich gegenseitig anzufeuern, den anderen herauszufordern, in freundschaftliche Konkurrenz zu treten. »Ich mache zehn Wiederholungen mit dem Gewicht, wetten?«, verkündete Karli. Dann machte er elf, nur um es mir zu beweisen Ich sah ihn bloß an und antwortete: »Dann mache ich jetzt zwölf.«
    Viele Ideen fürs Training holten wir uns aus Zeitschriften. Es gab Muskel- und Gewichthebermagazine auf Deutsch, aber die amerikanischen waren weitaus besser. Unser Freund Mui lieferte uns die Übersetzungen. Die Zeitschriften waren unsere Bibel beim Training und lieferten uns Anleitungen für unsere Ernährung, für die Zubereitung verschiedener Protein-Drinks zum Muskelaufbau und für die Arbeit mit einem Trainingspartner. Bodybuilding wurde als eine Art goldener Traum präsentiert. In jeder Ausgabe gab es Fotos von Champions und Details zu ihren Trainingsprogrammen. Bodybuilder posierten lächelnd am Muscle Beach in Kalifornien, natürlich stets umgeben von umwerfend schönen Mädchen in sexy Badeanzügen. Wir alle kannten den Namen des Verlegers Joe Weider, der eine Art Hugh Hefner der Bodybuilder-Welt war – ihm gehörten die Zeitschriften, von ihm fanden sich in jeder Ausgabe ein Foto und ein Artikel, und seine Frau Betty, ein gutaussehendes Model, war auf fast jeder Strandaufnahme zu sehen.
    Das Training nahm mich immer mehr in Anspruch, ich konnte an nichts anderes mehr denken. Als ich eines Sonntags im Stadion vor verschlossener Tür stand, brach ich ein und trainierte bei Eiseskälte im ungeheizten Kraftraum.

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