Tote im Salonwagen
auch nur eines deiner Worte anzuzweifeln. Alles wird so gewesen sein. Du bist pfiffig und hast genau hingesehen. Posharski hat dich richtig eingeschätzt, er hatte überhaupt eine hervorragende Menschenkenntnis. Trotzdem wäre es besser gewesen, du hättest den Bericht nicht geschrieben. Vielleicht hätte er einen Sinn gehabt, wenn dein Konkurrent noch am Leben wäre. So aber … Was soll es dir nützen, einen toten Löwen zu piesacken?«
Fandorin war bestürzt und verlegen zugleich.
»Aber ich b-b-… bitte Sie, Eure Hoheit«, protestierte er, »ich habe meinen Rapport nicht zu solchem Zweck verfaßt. Vielmehr wollte ich das Augenmerk meiner vorgesetzten Instanzen auf die Praktiken der G-geheimen Staatspolizei lenken …«
Eine herablassende Geste des Großfürsten brachte ihn zum Schweigen.
»Ich kann Gleb für seine Narreteien, nebenbei gesagt, nicht allzu böse sein. Eigentlich sind sie sogar witzig, auf ihre Art … Wie ich überhaupt Leuten, die mir treu ergeben sind, so manches nachsehe«, fügte Seine Hoheit mit bedeutungsvoller Eindringlichkeit an. »Auch du wirst Gelegenheit haben, dich davon zu überzeugen. Was deinen Bericht angeht – den habe ich vernichtet. Den Schleier des Vergessens darüber gebreitet. Es hat ihn nie gegeben. Das Prestige der Staatsmacht geht über alles – zum Beispiel auch über die Wahrheit. Das mußt du noch lernen. Nichtsdestoweniger weiß ich deine Sachkundigkeit zu würdigen. Leute wie Posharski und dich – so voller Energie und Unternehmungslust, vor nichts zurückschreckend – kann ich an meiner Seite gut gebrauchen. Dort ist nun ein Platz frei geworden, und ich möchte, daß du ihn einnimmst.«
Die »Narreteien« hatten dem Staatsrat die Sprache verschlagen, er war fassungslos. Doch der Großfürst deutete das Schweigen auf seine Weise; er lächelte verständnisvoll.
»Interessiert es dich, was ich mit dir vorhabe? Du errätst es nicht. Ich mache dich zu meinem Polizeipräsidenten. Morgen unterschreibe ich die Ernennungsurkunde. Das bedeutet, wenn ich nicht irre, zwölftausend Gehalt plus vierzehntausend Spesen, plus Fuhrpark und Residenz, nebst diversen Sonderfonds, über die du nach eigenem Gutdünken verfügst.Das Amt entspricht einem Rang vierter Klasse, so daß du bei nächster Gelegenheit zu Generalsehren kommen wirst. Den Kammerherr spendiere ich dir gleich, rechtzeitig zum Osterfest. Na, was sagst du dazu? Topp und abgemacht, wie es bei unseren Moskauer Kaufleuten so schön heißt?«
Der Großfürst zog die Lippen zu einem Lächeln breit und bot seinem Beamten ein zweites Mal die Hand. Doch diesmal blieb die hoheitliche Rechte in der Luft hängen.
»Ach, wissen Sie, Euer Gnaden … Ich habe beschlossen, den Staatsdienst zu quittieren«, sagte Erast Fandorin mit klarer, fester Stimme und sah seiner Kaiserlichen Hoheit dabei ins Gesicht, zugleich aber wie durch ihn hindurch. »Ein Privatleben ist mir lieber.«
Und er begab sich, ohne das Ende der Audienz abzuwarten, zur Tür.
Informationen zum Buch
Russland Ende des 19. Jahrhunderts: In Moskau und St. Petersburg herrscht politischer Terror. Als General Chrapow einem Attentat zum Opfer fällt, besitzt der Täter sogar die Frechheit, sich als Erast Fandorin zu verkleiden. Fandorin, inzwischen Staatsrat und eigentlich zum Schutz des Generals abgestellt, hat Chrapows Mörder bald ermittelt. Doch all seine Versuche, die Terroristen auszuheben und vor allem ihre Hintermänner dingfest zu machen, schlagen fehl. Es ist, als würde man nicht die Terroristen, sondern Fandorin jagen.
Informationen zum Autor
BORIS AKUNIN ist das Pseudonym des Moskauer Philologen, Kritikers, Essayisten und Übersetzers aus dem Japanischen Grigori Tschchartischwili (geb. 1956). 1998 veröffentlichte er seine ersten Kriminalromane, die ihn in kürzester Zeit zu einem der meistgelesenen Autoren in Russland machten. Heute genießt er in seiner Heimat geradezu legendäre Popularität. 2001 wurde er dort zum Schriftsteller des Jahres gekürt, seine Bücher wurden bereits in 30 Sprachen übersetzt, weltweit wurden etwa 6 Millionen davon verkauft. Mit seiner Fandorin-Serie erlangte er auch in Deutschland Kultstatus.
Im Aufbau Verlag erschienen: Fandorin (2001), Türkisches Gambit (2001), Mord auf der Leviathan (2002) Der Tod des Achilles (2002), Russisches Poker (2003), Die Schönheit der toten Mädchen (2003), Der Tote im Salonwagen (2004), Die Entführung des Großfürsten (2004), Der Magier von Moskau (2005), Die Liebhaber des Todes
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