Tote im Salonwagen
gerührt, Greisentränen in den Augenwinkeln. »Jetzt veranstalten sie eine große Hatz auf mich. Die reinste Wolfsjagd. Und dabei hab ich nur das Beste gewollt … Ich versteh das nicht, beim besten Willen, ich versteh das nicht!«
Konsterniert hob der Generalgouverneur die Hände. Da entgegnete der junge Mann mit dem dunklen Haarschopf und den grauen Schläfen auf einmal ganz ohne zu stottern:»Einer wie Sie wird nie verstehen, was Ehre und Menschenwürde bedeuten. Sei’s drum. Den anderen Bluthunden soll es eine Lehre sein!«
Die Kinnlade des Generals klappte nach unten, er wollte sich aus dem Sessel erheben, doch der sonderbare Beamte hatte die Hand inzwischen aus seinem Jackett gezogen, und darin war kein Telegramm, sondern ein kurzer Dolch. Der Dolch drang dem General mitten ins Herz, Chrapows Brauen schoben sich nach oben, der Mund ging auf, doch es kam kein Laut. Seine Finger krallten sich um die Hand des Staatsrats, wobei der Diamant noch einmal aufblitzte. Dann kippte der Kopf des Generalgouverneurs leblos nach hinten, und ein Rinnsal dunkles Blut lief ihm das Kinn hinab.
Angewidert löste der Mörder den Griff des Toten von seinem Handgelenk, riß den angeklebten Schnurrbart mit einem nervösen Ruck von seiner Oberlippe und rieb sich die grauen Schläfen, die davon so schwarz wurden wie sein übriges Haar.
Nach einem raschen Blick über die Schulter, auf die verschlossene Tür, trat der Mann zielstrebig vor eines der vom Schnee blinden Fenster, die auf die Gleise hinaus gingen, zerrte am Griff – doch das Fenster war am Rahmen angefroren, gab nicht nach. Was den seltsamen Staatsrat jedoch nicht aus der Fassung brachte. Er packte den Griff mit beiden Händen, hängte sich daran. Die Stirnadern traten ihm hervor, die zusammengebissenen Zähne knirschten – und, o Wunder: Der Fensterrahmen knirschte ebenfalls und fuhr nach unten. Schnee stäubte herein, dem Kraftprotz mitten ins Gesicht, die Vorhänge flatterten fröhlich. Ein behender Satz – und der Mörder schwang sich über die Fensterkante, war einen Moment später im Morgengrauen verschwunden.
Wenige Augenblicke später war das Kabinett nicht mehrwiederzuerkennen. Übermütig, als könnte er sein Glück nicht fassen, ließ der Wind allerlei hochwichtiges Papier über den Teppich wirbeln, zerrte an der fransigen Tischdecke, zauste die schlohweißen Haare des Generals.
Der hellblaue Lampenschirm geriet jäh ins Schaukeln, der Lichtkegel glitt über die Brust des Toten, und man konnte sehen, wie gründlich der Dolch eingepflanzt war, bis ans Heft – und daß dieses Heft zwei gravierte Initialen trug:
KG
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HENKER DER VERGELTUNG ENTZOGEN
Wie unsere Redaktion aus zuverlässigster Quelle erfuhr, soll Generaladjutant Chrapow, der erst letzten Donnerstag vom Amt des stellvertretenden Innenministers und Befehlshabers des Gendarmeriekorps entbunden wurde, in Bälde zum Generalgouverneur von Sibirien ernannt werden; er wird sich unverzüglich an seinen neuen Dienstort begeben. Die Hintergründe dieser Versetzung sind nur allzu einleuchtend. Dem Zaren liegt daran, Chrapow der Rache des Volkes zu entziehen, indem er seinen braven Kettenhund für eine Weile aus dem hauptstädtischen Verkehr zieht. Doch das Urteil, das unsere Partei über diesen blutrünstigen Satrapen gefällt hat, bleibt in Kraft. Mit seinem unmenschlichen Befehl, die politische Gefangene Polina Iwanzowa der Folter zu unterziehen, hat Chrapow selbst dafür gesorgt, daß die Gebote der Menschlichkeit auf ihn keine Anwendung mehr finden. Er hat sein Leben verwirkt. Zweimal gelang es dem Henker, seinen Rächern zu entkommen,doch er ist und bleibt dem Tode geweiht.
Aus nämlicher Quelle war zu erfahren, daß Chrapow bereits für den Posten des Innenministers vorgesehen ist. Die Abkommandierung nach Sibirien ist eine vorübergehende Maßnahme, ihr einziger Zweck, Chrapow vor dem Sühneschwert des Volkszorns in Sicherheit zu bringen. Die Zarenbüttel rechnen damit, unsere Kampfgruppe, der es obliegt, das Urteil über diesen Henker zu vollstrecken, in nächster Zeit aufzudecken und zu liquidieren. Und ist die Gefahr erst gebannt, wird Chrapow mit fliegenden Fahnen, als des Imperators unumschränkter Günstling, nach Petersburg zurückkehren.
Das darf nicht sein! Die ausgelöschten Leben unserer Genossen schreien nach Vergeltung.
Unsere Genossin Iwanzowa, da sie die Schmach nicht ertrug, hat sich im Kerker erdrosselt. Sie war gerade einmal siebzehn Jahre alt.
Die dreiundzwanzigjährige
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