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Tote lieben laenger

Tote lieben laenger

Titel: Tote lieben laenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Nicholson
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Ansammlung von Gedanken? Eine Erinnerung für nur einige wenige, eine Erinnerung, die mit diesen wenigen Menschen sterben würde.
    Ich war so deprimiert, dass ich den einzigen möglichen Ausweg wählte: ich sprang.
    Ich hatte nie viel von Selbstmördern gehalten, vor allem nicht, nachdem Diana mir diesen Streich gespielt hatte. Und ich hielt noch viel weniger von denen, die es wiederholt probierten. Meine Definition von einem Versager war jemand, der so elend ist, dass er sogar am letzten Scheitern scheitert. Und nun war ich hier, ein Springer, ein Idiot im freien Fall. Während der Wind an meinem Kopf vorbeipfiff, dachte ich mir, wie unmöglich das war. Wie konnte man sich umbringen, wenn man schon tot war? Und mein nächster Gedanke war "Warum schwebe ich nicht?", während mir der Beton entgegenkam, um mich zu grüßen.
    Und dann waren meine Gedanken zu Ende, meine mystischen Knochen wurden zu Pulver verarbeitet und ich fand mich im Wartesaal wieder.
    Diesmal saß eine gutgekleidete Frau in Weiß neben mir. "Hallo, Fremder", sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen.
    Die Hand knickte nach unten und ich konnte einen Blick auf den langen roten Einschnitt an ihrem Handgelenk werfen.
    Sie bemerkte mein Starren. "Oh, das."
    Ich blickte woanders hin, klopfte meine Kleidung ab und versuchte herauszufinden, ob irgendwelche Knochen verschoben waren. Die Einschusslöcher waren noch da, aber nun war der Stoff auch noch abgewetzt. Ich sah mehr nach einem unordentlichen, billigen Detektiv aus als jemals zuvor.
    "Hast du was zu rauchen, Matrose?" fragte die Frau. Sie sah wie irgendwo zwischen dreißig und dreihundert aus und ich fragte mich, wie viele Durchgänge durch den Wartesaal sie wohl schon absolviert hatte.
    Ich deutete auf das "Rauchen verboten"-Schild und zuckte mit den Schultern. "Vorschriften."
    "Wem sagst du das. Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften. Man kann ihnen nicht entkommen, egal, wohin man auch geht."
    "Sind Sie schon lange tot?"
    Sie musste das als Anmachspruch aufgefasst haben, denn sie senkte den Kopf und klimperte mit den Wimpern. "Lang genug, um es besser zu wissen, aber noch nicht lang genug, um es langweilig zu finden."
    Bevor ich ihre kryptisch-lasziven Worte in eine allgemein verständliche Sprache übersetzen konnte, schaltete sich der Lautsprecher mit einem statischen Zischen an. Die Stimme war die meiner Sachbearbeiterin, Miss Titanic, und sie war freudig angepisst. "Steele. Bewegen Sie Ihren verdammten Hintern hier rein, aber sofort."
    Ich nickte meiner von Selbstverachtung erfüllten Banknachbarin zu und machte mich auf ans andere Ende der Halle. Kaum war ich durch die Tür, als ich schon eine volle Ladung abbekam.
    "Richard Stanley Steele. Ich habe zu Gott gebetet, dass Sie mir nie wieder unter die Augen kommen werden. Hab ich Ihnen nicht aufmunternde Worte zuteil werden lassen und Ihnen alles ganz klar erklärt? Ihnen offen und ehrlich die Vorteile von Aufopferung und Glauben erläutert? Und trotzdem kommen sie zurückgekrochen durch eine Tür, die sich eigentlich nur in eine Richtung öffnen lässt."
    Die Papierstapel um sie herum waren noch höher geworden. Sie musste stehen, um mich über sie hinweg ansehen zu können. Ich kauerte auf dem Stuhl wie ein zu spät gekommener Drittklässler.
    "Es ist schlimm genug, wenn jemand ermordet wird", fuhr sie fort. Ihre nächsten Worte akzentuierte sie, indem sie mit Papieren auf den Tisch schlug. "Aber – wenn – man – sich – umbringt ..."
    Lee. Was würde Lee denken, wenn sie jemals herausfände, dass ich ein zu großer Feigling war, um standzuhalten und zu kämpfen? Oder dass ich einen Moment der Schwäche mit der Person erlebt hatte, die ich mehr als alles hasste? Es spielte keine Rolle, dass ich nicht wirklich in den Apfel gebissen hatte. Ich war auf den Baum geklettert.
    Meine Sachbearbeiterin musste den Ausdruck auf meinem Gesicht richtig interpretiert haben. "Ja, stimmt. Sie haben keine verdammte Ahnung von Aufopferung. Sie sind nichts als ein selbstbezogener Haufen–"
    Sie stoppte sich selbst und führte eine schnelle Handbewegung aus, die wie eine Geste der Buße in irgendeiner obskuren fernöstlichen Religion aussah.
    Ich fürchtete mich nicht länger vor einer Ewigkeit mit Diana, einem endlosen Kreis aus Entschuldigungen und Vorwürfen. Ich hatte größere Angst davor, dass die Hölle nichts anderes war als ein für immer ungelöster Vermisstenfall, der eine Person betraf, die nie existiert hatte. Ein Karussell der Schuld.

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