Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
meinem Elternhaus direkt ins College gezogen und hatte unmittelbar danach Pete geheiratet. Andersherum gesagt: Ich war noch nie meine eigene Herrin gewesen. Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Ich genoß es sehr, allein zu sein.
Als ich gerade über die Grenze zwischen Wachen und Schlafen glitt, läutete das Telefon und holte mich zurück in die Realität. Abrupt aus meinem Dämmerschlaf gerissen, verspürte ich beim Abnehmen des Hörers ein leichtes Kopfweh. Am anderen Ende der Leitung war eine roboterhafte Stimme, die versuchte, mir eine Grabstelle auf einem Friedhof aufzuschwatzen.
» Merde «, sagte ich, legte auf und erhob mich langsam von der Couch. In den letzten Monaten hatte ich mir angewöhnt, mit mir selbst zu sprechen. Das war einer der Nachteile des Alleinlebens.
Ein anderer war der, daß ich nicht bei meiner Tochter war. Ich wählte ihre Nummer, und sie hob schon nach dem ersten Klingeln ab.
»O Mom, wie schön, daß du anrufst. Wie geht es dir? Ich kann jetzt leider nicht mit dir sprechen, weil ich jemanden in der anderen Leitung habe. Kann ich dich in ein paar Minuten zurückrufen?«
Ich mußte lächeln. Das war typisch Katy. Sie war ständig außer Atem und hatte tausend verschiedene Dinge am Laufen.
»Kein Problem, Liebes. Es war nichts Wichtiges, ich wollte mich bloß mal wieder bei dir melden. Könntest du mich vielleicht morgen anrufen? Ich gehe heute Abend nämlich mit Gabby zum Essen.«
»Klar. Gib ihr einen dicken Kuß von mir. Ach, übrigens, ich habe in der Französischklausur eine Eins, falls es das ist, weshalb du anrufst.«
»Daran habe ich nie gezweifelt«, sagte ich lachend. »Dann bis morgen.«
Zwanzig Minuten später stellte ich meinen Wagen vor Gabbys Wohnhaus ab. Wie durch ein Wunder hatte ich einen Parkplatz direkt vor der Tür gefunden. Ich zog den Zündschlüssel ab und stieg aus.
Gabby wohnte am Carré St. Louis, einem bezaubernden kleinen Platz zwischen dem Boulevard St. Laurent und der Rue St. Denis. Der kleine Park in seiner Mitte wird von hübschen hölzernen Reihenhäusern in den unterschiedlichsten Formen gesäumt, die allesamt aus einer Zeit stammen, in der man noch phantasievoll gebaut hat. Mit ihren bunten Anstrichen in allen Farben des Regenbogens und ihren Gärten voller üppig wuchernder Sommerblumen kommen sie mir immer so vor, als wären sie direkt einem Zeichentrickfilm von Walt Disney entsprungen.
Der Park, dem eine tulpenförmig in den Himmel steigende Wasserfontäne eine besondere Note verleiht, ist von einem kniehohen Zaun aus filigran verschlungenem Schmiedeeisen umgeben, der die öffentliche Grünfläche von den Lebkuchenhäusern ringsum abtrennt. Beim Anblick der Häuser und des Parks fällt mir immer auf, wie sehr die Menschen des viktorianischen Zeitalters, die in sexuellen Dingen eine enorme Prüderie an den Tag legten, beim Entwerfen von Häusern und Gärten ihrer Phantasie freien Lauf ließen. Irgendwie finde ich diese Erkenntnis beruhigend, denn sie zeigt mir, daß es zu allem ein gewisses Gegengewicht gibt.
Als ich aus dem Auto stieg, warf ich einen Blick auf Gabbys Haus. Es befand sich am Nordrand des Parks und war das dritte nach der Rue Henri-Julien. Katy hätte es wohl als einen »krassen Exzeß« bezeichnet, so wie manche Kleider für den Abschlußball, über die wir uns jedes Frühjahr aufs neue schieflachen. Es schien so, als sei der Architekt erst dann zufrieden gewesen, als er sein Gebäude mit allen nur denkbaren Schnörkeln verziert hatte.
Das Haus war ein zweistöckiger Ziegelbau mit großen Erkerfenstern. Das Dach war mit kleinen ovalen Schindeln gedeckt, die mich an die Schuppen einer Meerjungfrau erinnerten. In seiner Mitte thronte ein abgeschnittenes sechseckiges Türmchen mit einer von einem schmiedeeisernen Geländer umgebenen Aussichtsplattform. Die Fenster hatten sanft geschwungene, maurische Bögen, und sämtliche Fenster- und Türstöcke waren reich mit Schnitzwerk verziert und zart lavendelfarben gestrichen. Links vom Erkerfenster im Erdgeschoß wand sich eine eiserne Wendeltreppe, deren verschlungene Verzierungen an den Zaun um den Park erinnerten, hinauf zur Veranda im ersten Stock. Jetzt, Anfang Juni, blühten auf den Fensterbänken und in den großen Pflanzkübeln auf der Terrasse die unterschiedlichsten Blumen.
Gabby hatte wohl schon auf mich gewartet, denn als ich den Gehsteig betrat, sah ich, wie sich an einem ihrer Fenster der Vorhang bewegte. Kurz darauf ging die Haustür auf, und
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