Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
das höchste der Gefühle, länger konnte ich die Hitze nicht ertragen, auch wenn sie noch so gesund war. Noch fünf Minuten.
Chantale Trottier wurde vor weniger als einem Jahr getötet, und zwar in dem Herbst, in dem ich ganztags für das Labor zu arbeiten anfing. Sie war sechzehn Jahre alt. Heute nachmittag hatte ich die Photos von ihrer Autopsie noch einmal auf meinem Schreibtisch ausgebreitet, aber das wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen. Ich konnte mich auch ohne die Bilder noch lebhaft an den Tag erinnern, an dem man sie in die Leichenhalle gebracht hatte.
Es war der zweiundzwanzigste Oktober gewesen, der Tag, an dem im Labor das alljährliche Austernfest stattfand. An diesem Freitagnachmittag hatten die meisten meiner Kollegen schon früh mit der Arbeit aufgehört, um zu feiern und Malpeque-Austern zu schlürfen. Auch ich stand in dem überfüllten Konferenzraum und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie LaManche telefonierte. Der Partylärm um ihn herum war so laut, daß er sich das freie Ohr zuhalten mußte. Als LaManche aufgelegt hatte, ließ er seine Blicke durch den Raum schweifen, bis sie auf mir zur Ruhe kamen. Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, daß ich ihn draußen im Gang treffen solle. Als nächstes suchte er Bergeron und beorderte ihn ebenfalls nach draußen. Ein paar Minuten später standen wir zu dritt im Aufzug, und LaManche erklärte, daß soeben die Leiche eines jungen Mädchens hereingekommen sei. Sie war zerstückelt und so übel zugerichtet worden, da sie nicht mehr identifiziert werden konnte. Bergeron sollte sich das Gebiß und ich mir die Schnittspuren an den Knochen ansehen.
Die Stimmung in der Leichenhalle war ein krasser Gegensatz zu der ausgelassenen Fröhlichkeit oben im Konferenzraum. Zwei Detectives von der SQ hielten gebührenden Abstand zu der Leiche, die ihr uniformierter Kollege von der Vermißtenabteilung gerade photographierte. Der Autopsieassistent schwieg ebenso wie die beiden Detectives. Keine Witze, kein blödes Gerede. Das einzige Geräusch war das Klicken des Photoapparates.
Man hatte die Überreste des Mädchens wie einen menschlichen Körper aneinandergefugt. Sechs blutige Einzelteile in anatomisch korrekter Anordnung, aber weil die Winkel, in denen die einzelnen Glieder zueinander lagen, nicht ganz stimmten, erinnerte das Bild an eine dieser Plastikpuppen, die man in alle möglichen Stellungen verdrehen kann. Es war ein grauenhafter, makabrer Anblick.
Der Kopf des Mädchens war ziemlich hoch oben am Hals abgeschnitten worden. Die durchtrennte Halsmuskulatur hatte eine kräftig rote Farbe, die mich an blühenden Mohn erinnerte. Die bleiche Haut an den Rändern der Schnittfläche hatte sich leicht aufgeworfen, als schrecke sie vor dem Kontakt mit dem frischen, rohen Fleisch zurück. Die Augen waren halb geöffnet, aus dem rechten Nasenloch floß ein zartes, blutiges Rinnsal, und die langen, blonden Haare des Mädchens waren noch naß von der Leichenwäsche und klebten glatt am Kopf.
Den Rumpf des Mädchens hatte der Mörder an der Taille durchtrennt. Am oberen Teil befanden sich die auf dem Bauch des Mädchens gekreuzten Arme, so als habe man sie in einen Sarg legen wollen. Nur daß die Hände nicht gefaltet waren. Die rechte Hand war halb abgeschnitten, so daß die cremeweißen Sehnen wie durchtrennte elektrische Leitungen heraushingen. Die linke Hand, die der Täter vollkommen abgetrennt hatte, lag neben dem Kopf auf dem Autopsietisch. Ihre leicht gekrümmten Finger verliehen ihr das Aussehen einer großen, vertrockneten Spinne.
Der Torso des toten Mädchens war vom Hals bis zum Bauch aufgeschlitzt worden, und seine großen Brüste, die schwer auf beiden Seiten des Brustkorbs herunterhingen, zogen die Hälften des Schnitts auseinander. Darunter lag der mittlere Teil der Leiche, der von den Hüften bis zu den Knien reichte, und danach kamen noch die Unterschenkel mit den Füßen, die ohne Verbindung mit den Kniegelenken so dalagen, daß die Zehen nach außen und nicht nach oben zeigten.
Der Anblick ihrer zartrosa Zehennägel tat mir in der Seele weh. Am liebsten hätte ich das tote Mädchen mit irgend etwas zugedeckt und die anderen angeschrien, sie sollten es in Ruhe lassen. Statt dessen blieb ich stehen, sah dem photographierenden Polizisten zu und wartete, bis ich an der Reihe war, die Würde der Toten zu verletzen.
Als ich jetzt, Monate später, die Augen schloß, konnte ich noch immer die gezackten Risse an ihrer Kopfhaut sehen, die von
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