Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
ihre gesicherte Dozentinnenstelle aufgegeben hat und mit ihm auf die Keys gezogen ist, oder?«
Gabby hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen.
»Jetzt hat sie einen befristeten Vertrag und arbeitet wie ein Pferd, um eine reguläre Stelle zu bekommen.«
Noch ein Schluck.
»Hoffen wir, daß ihr Mann sie läßt. Wie geht’s eigentlich Pete?«
Die Frage traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Bisher hatte ich nur sehr zurückhaltend von meiner gescheiterten Ehe gesprochen. Es war, als ob an diesem Punkt immer das Getriebe meiner Sprache klemmen würde, und ich hatte Angst, diese Sperre zu lösen. Wenn ich das bisher Unausgesprochene in Worte kleidete, so fürchtete ich, schuf ich damit eine Realität, der ich noch nicht richtig ins Auge blicken konnte. Also vermied ich das Thema. Gabby gehörte zu den wenigen Menschen, die überhaupt davon wußten.
»Es geht ihm gut. Wir reden miteinander.«
»Menschen können sich ändern.«
»Ja.«
Unsere Salate wurden serviert. Wir hantierten schweigend mit Essig, Öl und Pfeffermühle. Als ich wieder aufblickte, saß Gabby still da und hielt eine Gabel mit Salat auf halbem Weg zwischen Teller und Mund. Sie hatte sich wieder von mir zurückgezogen, nur jetzt schien sie mehr an Vorgängen in ihrem Inneren interessiert als an den Gesichtern der Passanten.
Ich versuchte es mit einer anderen Taktik.
»Was macht eigentlich dein Projekt?«
»Was? Ach so, das Projekt. Es läuft recht gut. Mittlerweile habe ich das Vertrauen der Frauen gewonnen, und manche von ihnen fangen an, offen mit mir zu reden.«
Sie steckte die Gabel in ihren Mund.
»Gabby, ich weiß, daß du mir das alles schon mal erzählt hast, aber erkläre es mir als trockener Naturwissenschaftlerin doch bitte noch einmal. Was ist das Ziel des Projekts?«
Gabby lachte über die Berührungsängste, die ich als Anthropologin schon immer gegenüber der Ethnologie gehabt hatte. An unserer kleinen Fakultät hatte es die unterschiedlichsten Studienschwerpunkte gegeben. Die einen hatten sich mit Ethnologie beschäftigt, andere mit Linguistik und wieder andere mit Archäologie oder Humanbiologie. So kam es, daß ich ebensowenig von Dekonstruktivismus verstand wie Gabby von mitochondrialer DNA.
»Erinnerst du dich noch an die Völkerbeschreibungen, die wir bei Ray lesen mußten? Über die Janomamo, die Semai und die Nuer? Nun, mein Projekt ist etwas Ähnliches. Wir versuchen, die Welt der Prostituierten durch genaue Beobachtung und Interviews mit Informanten zu beschreiben. Das ist echte Feldforschung. Ganz nah und persönlich.« Gabby aß eine weitere Gabel von ihrem Salat. »Wer sind diese Prostituierten? Wo kommen sie her? Wie kamen sie zur Prostitution? Wie sieht ihr Tagesablauf aus? Wie passen sie in unser Wirtschaftssystem? Wie sehen sie sich selbst? Wo sind –«
»Ich verstehe, was du meinst.«
Möglicherweise lag Gabbys plötzliche Begeisterung an ihrem Weinkonsum, vielleicht aber war sie ihrem Thema ja auch wirklich so leidenschaftlich verbunden, daß sie immer lebhafter wurde. Obwohl es inzwischen dunkel geworden war, konnte ich sehen, daß sie ganz rot im Gesicht wurde, und ihre Augen funkelten im Licht der Straßenlaternen.
»Die Gesellschaft hat diese Frauen einfach abgeschrieben. Niemand interessiert sich für sie, mit Ausnahme derjenigen natürlich, denen sie ein Dorn im Auge sind und die sie am liebsten loswerden wollen.«
Ich nickte, während Gabby noch eine Gabel von ihrem Salat nahm.
»Die meisten Leute glauben, daß nur Frauen auf den Strich gehen, die von Zuhältern dazu gezwungen werden oder die als Kinder mißbraucht wurden. In Wirklichkeit aber tun es viele Frauen schlicht und ergreifend deshalb, weil sie Geld brauchen. Sie haben oft nicht die richtigen Qualifikationen für einen guten Arbeitsplatz und könnten mit einfachen Jobs nie und nimmer ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die meisten planen, nur ein paar Jahre auf den Strich zu gehen und gut zu verdienen. Den eigenen Körper zu verkaufen bringt nun mal mehr ein als Hamburger zu brutzeln.«
Wieder eine Gabel Salat.
»Prostituierte haben, wie jede andere gesellschaftliche Gruppe auch, ihre eigene Subkultur. Mich interessieren die Netzwerke, die sie aufbauen und die Unterstützungssysteme, auf die sie zurückgreifen können.«
Der Kellner kam mit unseren Vorspeisen.
»Und was ist mit den Männern, die sich ihre Dienste kaufen?«
»Wie meinst du das?« Diese Frage schien ihr nicht zu passen.
»Was ist mit den Kerlen, die zu
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