Tote Maedchen luegen nicht
damals nicht geweint, doch jetzt kann ich meine Tränen kaum noch zurückhalten.
Und auch ich kann jetzt nicht nach Hause gehen.
Also bin ich weiter ziellos umhergeirrt. Es tat mir gut, die Kälte und den Sprühregen auf meiner Haut zu spüren. Stundenlang bin ich so weitergelaufen und habe mir vorgestellt,
wie aus dem leichten Dunst ein dichter Nebel würde, der mich für immer verschlang. Der Gedanke, so mir nichts, dir nichts zu verschwinden, machte mich glücklich.
Aber das ist, wie ihr wisst, nie passiert.
Ich öffne den Deckel und drehe die Kassette um. Fast bin ich am Ende angekommen.
Ich stoße zitternd die Luft aus und schließe die Augen. Das Ende.
KASSETTE 6: SEITE B
Nur noch zwei. Gebt jetzt nicht auf.
Oh, entschuldigt die unpassende Bemerkung. Schließlich bin ich es, die aufgibt, oder? Darauf läuft doch am Ende alles hinaus... dass ich mich selbst... aufgebe.
Ihre Stimme klingt ruhig. Im Einklang mit dem, was sie sagt.
Vor dieser Party hatte ich so oft daran gedacht aufzugeben. Ich weiß nicht, vielleicht neigen manche Leute von Natur aus eher dazu als andere. Denn immer wenn irgendwas Schreckliches passiert ist, dachte ich daran.
Daran? Okay, ich werde es beim Namen nennen. Ich dachte an Selbstmord.
Die Wut, die Scham, das alles ist vorbei. Sie hat sich entschieden. Das Wort hat seinen Schrecken verloren.
Nach allem, wovon ich auf den Kassetten erzählt habe, nach all diesen Ereignissen begann ich, mit dem Gedanken an einen möglichen Selbstmord zu spielen. Für gewöhnlich war das nur ein vorübergehender Gedanke.
Ich will nicht mehr leben.
Ich habe diese Worte oft gedacht. Aber es fällt schwer, sie laut auszusprechen. Und der Gedanke, sie womöglich ernst zu meinen, ist noch erschreckender.
Doch manchmal habe ich mich intensiver damit auseinandergesetzt und überlegt, wie ich es anstellen könnte. Ich legte mich ins Bett und fragte mich, ob es in unserem Haus irgendeinen Gegenstand gab, der infrage kam.
Ein Gewehr? Nein, so was haben wir nie besessen. Und ich wusste auch nicht, wo ich eins herbekommen sollte.
Sich aufhängen? Womit? Und wo? Und selbst wenn diese Fragen gelöst wären, schauderte ich bei dem Gedanken, mir bildlich vorzustellen, wie ich irgendwo über dem Fußboden baumelte.
Das konnte ich Mom und Dad nicht antun.
Wie haben sie dich gefunden? Es gab so viele Gerüchte darüber.
Mit der Zeit wurde das zu einem makabren Spiel - mir vorzustellen, wie ich mich umbringen könnte. Und natürlich gibt es da ein paar verrückte und phantasievolle Möglichkeiten.
Du hast Tabletten genommen. Das wissen alle. Manche sagen, du hast das Bewusstsein verloren und bist in der Badewanne ertrunken.
Nach und nach schälten sich zwei Dinge heraus. Zum einen wollte ich, dass es wie ein Unfall aussieht, dass ich zum Beispiel mit dem Auto von der Straße abgekommen wäre. An irgendeiner Stelle, an der man keine Überlebenschance hat. Außerhalb der Stadt gibt es da genügend Möglichkeiten. In den letzten Wochen war ich sicher mehrmals an solchen Stellen vorbeigefahren.
Andere behaupten, du hast den Wasserhahn der Badewanne aufgedreht, bist dann aber auf dem Bett eingeschlafen. Als deine Eltern nach Hause kamen, haben sie sogleich die Überschwemmung bemerkt und deinen Namen gerufen, aber keine Antwort erhalten.
Doch da sind diese Kassetten.
Könnte ich mich darauf verlassen, dass ihr das Geheimnis für euch behaltet? Dass meine Eltern nicht erfahren, was wirklich passiert ist? Dass ihr sie in dem Glauben lasst, dass es ein Unfall war?
Sie hält inne.
Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher.
Sie hält es für möglich, dass wir uns davon erzählen. Dass der eine zum anderen sagt: »Willst du mal ein echt schreckliches Geheimnis erfahren?«
Also habe ich mich für den schmerzlosesten Weg entschieden.
Tabletten.
Mein Magen zieht sich zusammen, als wollte sich mein Körper von allem befreien: Essen, Gedanken, Gefühle.
Doch was für Tabletten? Und wie viele? Ich weiß es nicht, doch mir bleibt nicht mehr viel Zeit, es herauszufinden, denn morgen... werde ich es tun.
Wow.
An einer stillen, dunklen Kreuzung sitze ich auf der Bordsteinkante.
Morgen werde ich nicht mehr da sein.
Die Häuser ringsum liegen im Dunkeln. Nur hinter wenigen Fenstern flackert das schwache bläuliche Licht nächtlich eingeschalteter Fernseher. Bei ungefähr einem Drittel von ihnen ist die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Doch bei den übrigen
zeugen allenfalls der gemähte Rasen oder ein
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