Tote Maedchen schreiben keine Briefe
nach oben. Ich hatte es so lange wie irgend möglich hinausgezögert. Ich musste Jazz' letzte Worte lesen.
In meinem Zimmer setzte ich mich auf das Bett und holte den Brief aus dem Wörterbuch. Ich drehte ihn hin und her und klopfte damit gegen meine Handfläche. Dann ließ ich ihn auf das Bett fallen.
Zuerst würde ich baden. Die altmodische Badewanne, so eine auf Löwentatzen, die einen großen Ball umklammern, war tief und das heiße Wasser, das meine Haut rötete, als ich hineinglitt, linderte die Furcht, die in mir hochkroch. Ich lockerte meinen Kiefer, ließ den Kopf kreisen und dehnte die verspannte Schultermuskulatur. Ich krümmte und streckte die Zehen, während ich Shampoo in meinem Haar verteilte. Das Haarewaschen war nur ein Vorwand, um meinen Kopf zu massieren. Das heiße Wasser und die knetenden Bewegungen der Finger sorgten dafür, dass sich die Kopfhaut entspannte und glatt über Stirn und Schläfen legte. Ich blieb in der Badewanne, bis das Wasser kalt wurde, trocknete mich dann schnell ab und wickelte mir das Handtuch um die Haare. Aus dem Schrank im Badezimmer holte ich ein langes T-Shirt und zog es über den Turban auf meinem Kopf, bevor ich das Handtuch löste und damit das Haar trocken rubbelte. Anschließend arbeitete ich mich mit einem grobzinkigen Kamm durch meinen glatten, kinnlangen Bob und fertig.
Ich ging immer in dieser Reihenfolge vor. Listen, feste Abläufe und Gewohnheiten waren mein Leben. Veränderung und Chaos kamen für mich von einem anderen Stern.
Ich schaltete die Nachttischlampe an, löschte das Deckenlicht, glitt unter das weiche Baumwolllaken, rückte die Kopfkissen zurecht und starrte auf den gelben Umschlag. Ich trommelte mit den Fingern auf das Papier. Schließlich riss ich den Brief an der oberen Kante auf und faltete die Seiten auseinander. Das Erste, was mir ins Auge stach, war das Datum. In Jazz' unverwechselbarer Handschrift stand da: 20. Mai.
Das war unmöglich. Jazz starb im Februar. Wie konnte sie jetzt, im Mai, erst vor vier Tagen, einen Brief geschrieben haben?
Liebe Mom, lieber Dad, liebe Sunny,
Ihr seid sicher geschockt, diesen Brief hier zu erhalten. Ich freue mich, wie Mark Twain schrei ben zu können: »Der Bericht über meinen Tod wurde stark übertrieben.« Ich sollte wahrschein lich nicht so leichtfertig mit dieser Nachricht umgehen, aber ich weiß ganz ehrlich nicht, wie ich meiner Familie die Neuigkeit verkünden soll, dass ich doch nicht tot bin.
Ich habe mich entschieden, Euch zu schreiben statt anzurufen, und hoffe, dass der Schock so weniger schlimm sein wird.
Folgendes ist passiert: Meine Mitbewohnerin und ich kamen nicht gut miteinander klar. Es war ein ständiges Gekeife und Gestreite. Eine Freundin er zählte mir, sie könne mir einen Job bei einem Theaterensemble in Vermont vermitteln. Die zweite Besetzung der Hauptrolle hatte eine Na senoperation und deshalb waren Umbesetzungen nötig. Es ging um ein Engagement von ungefähr zehn Wochen. Ich hielt das für eine großartige Idee. So würden Rhonda (meine Mitbewohnerin) und ich ein wenig Abstand gewinnen und das Geld konnte ich brauchen.
Außerdem benötigte ich für meinen Lebenslauf noch Nachweise über Bühnenerfahrung. Also habe ich mich auf den Weg gemacht.
In den Nachrichten brachten sie nichts über den Brand oder ich habe es nicht mitbekommen. Ich wusste nicht, dass man mich für tot erklärt hatte, bis ich nach New York zurückkehrte. Stellt Euch bloß vor, wie perplex ich war, als ich erfuhr, dass das Mietshaus abgebrannt war. Ich fand ein Zim mer im YWCA und brauchte einige Tage, um ein paar alte Freunde ausfindig zu machen. Die wä ren vor Schreck fast umgekippt, als ich auftauch te. Ihre Reaktion hat mich davon überzeugt, dass es besser ist, Euch zu schreiben, statt anzurufen. Meine Freunde haben mir erzählt, dass die Poli zei immer noch versucht, die Toten zu identifizieren, aber dass sie nur langsam voran kommt, weil es so viele Opfer gab. Grauenvoll, was? Na ja, jedenfalls hat man angenommen, dass ich zu den Toten zählte, weil mein Name auf dem Mietvertrag stand und niemand von mir gehört hatte. Meine Angewohnheit, einfach, ohne jemandem Bescheid zu geben, irgendwohin zu fahren, hat Euch allen wohl sehr viel Kummer ge bracht.
Ich bin zur Polizei gegangen, um zu melden, dass ich am Leben bin, und habe den Beamten gesagt, dass ich Euch das selbst mitteilen würde. Das will ich hiermit tun: Bitte seid versichert, dass ich lebendig und wohlauf bin.
Ich weiß, das
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