Toten-Welt (German Edition)
Spinnen-Vision, halb bei der Behauptung, das könne sie auch, und registrierte staunend und mit gewissem Widerwillen die Herabwürdigung Bergenstrohs durch die ihm doch vermeintlich untergebene Person. Irritiert stellte sie fest, dass er sie die ganze Zeit fixiert hatte, und zwar mit einem Blick, der seiner hilflosen Erscheinung widersprach.
„Ich hatte da oben im Turm keine Gelegenheit, mich frisch zu machen, also...“
Amelie lag ihre Hygiene wirklich am Herzen, aber sie sah das Thema auch als willkommene Gelegenheit, dem saugenden Blick zu entkommen.
„Er hat Sie in einem der Türme übernachten lassen? Etwa im Torturm? Da oben ist doch das Uhr- und Läutwerk!“
Die Ärztin richtete Fragen und Feststellung wie einen Vorwurf an Bergenstroh, aber Amelie kam es vor wie Theater. Die wusste doch offenbar, wer sie war und was sie hier machte – aber wollte nicht gewusst haben, wo sie übernachtet hatte?
„Ich dachte...“, wollte sich Bergenstroh rechtfertigen, aber sie schnitt ihm das Wort ab:
„Es gibt hier auf der Burg so schöne, komfortable Räume, und alle stehen sie leer. Wie um alles auf der Welt kommen Sie also ausgerechnet auf das Torturmzimmer?“
„Ich wollte mich doch gar nicht über meine Unterbringung beschweren“, mischte sich Amelie ein. „Eigentlich bin ich nicht so anspruchsvoll. Aber eine Toilette wäre jetzt schon sehr willkommen.“
„Kommen Sie mal mit!“
Die Frau, deren Namen Amelie schon wieder vergessen hatte, machte so übertrieben, dass es weh tat, das Lockzeichen mit dem gekrümmten Zeigefinger und ging voraus zu der offen stehenden Tür, die nach unten zu führen schien.
„Vorhin dachte ich, dass Sie da drin wären“, sagte Amelie aus Verlegenheit, als die Ärztin am Türstock stehenblieb, zur Seite trat und mit großer Geste andeutete, ihren Gast vorangehen lassen zu wollen. Eine steinerne Wendeltreppe führte steil hinab in spärlich beleuchtete Tiefen. Kaum hatte Amelie die ersten Stufen genommen, folgte die Frau ihr nach.
„Husch-husch, mein Schätzchen!“
Widerstrebend und von unerklärlicher Furcht wie gelähmt ging Amelie Stufe für Stufe voran. Mutmaßlich ein Stockwerk tiefer endete der Treppengang vor einer Art Erker. Amelie sah ein kreisförmiges Loch, durch das von unten her Tageslicht hereinschien, und begriff mit halbem Hirn, während die andere Hälfte noch lauter Alarm bimmelte.
„Soll das ein Scherz sein?“
„Nein, das ist todernst!“
Von ihrer Begleiterin war im Halbdunkel vor allem die ungeheure Frisur präsent. Sie brach sofort darauf in albernes Kichern aus.
„Natürlich ist das ein Scherz. Das ist eine der Attraktionen auf dieser Burg, ein Original-Abort-Erker aus dem Jahr 1433. Das war der Ort, den auch der wildeste Recke zu Fuß aufsuchen musste.“
Obwohl nun die Situation geklärt schien und Amelie nichts als nur weg von hier wollte, verharrte die Frau am Fleck und versperrte ihr den Durchgang.
„Hier kam übrigens mal jemand zu Tode.“
Ihre Stimme war wieder düster geworden, um Sekunden später abermals ins Kreischige umzuschlagen.
„Und zwar ein mittelalterlicher Stubentiger. Das blöde Vieh dachte wohl, das sei die Katzenklappe. Falsch gedacht, abgestürzt und aufgeklatscht. Angeblich schleicht der Tiergeist nachts durchs Schloss und miaut gar förchterlüch. Nun kommen Sie schon, bevor ich Sie mit meinen Geschichten zwinge, das alte Örtchen erstmals seit Jahrhunderten zu reaktivieren aus der Not heraus, es sonst nicht bis zum Water Closet zu schaffen. Das liegt nämlich ganz am anderen Ende des Gemäuers. Wie dringend ist es denn?“
„Na ja, wenn Sie so direkt fragen...“, druckste Amelie, peinlich berührt von der unangemessenen Direktheit.
„Moment bitte!“
Die Frau schob ihre Hand in eine der unzähligen Taschen ihrer Hose und fischte ein Handy hervor. Amelie hatte keinen Klingelton gehört. Vielleicht war ja auf Vibration geschaltet.
„Berkel!“
Das war der Name: Dr. Wicca-Maria Berkel. Amelie dachte Berkel-Berkel-Berkel – Ferkel! Ein ultrahaariges Ferkel. Jetzt würde sie den Namen bestimmt nicht mehr vergessen.
„Was? Verdammter Mist, der Empfang. Ich bin hier... Hallo? Ich ruf dich vom Festnetz zurück.“
Mit gezücktem Handy rannte sie die Treppen hoch und verschwand um die erste Wendelkehre. Das Display hatte nicht geleuchtet. Aber warum hätte sie einen Anruf vortäuschen sollen? Amelie fiel kein Grund ein. Doch dann erreichte sie das obere Ende der Wendeltreppe und stand vor völliger
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