Toten-Welt (German Edition)
Körper, Pergamenthaut über Knochen, leere Augenhöhlen und gebleckte Zähne. Die lebende Katze sah sie nicht.
„Amelie? Schätzchen, sind Sie noch da unten?“
Hinter ihr, am Durchschlupf vom Aborterker zu dem Stumpen eines Wehrgangs, erschien der haarige Riesenkopf der Ärztin.
„Was treiben Sie denn da!“
Es klang vorwurfsvoll, was Amelie fuchtig machte, denn wenn hier jemandem Vorwürfe zustanden, dann ihr. Trotzdem hörte sie sich kleinlaut an, als sie antwortete:
„Ich hab was gefunden, eine mumifizierte Katze.“
„Papperlapapp! Was wollen Sie überhaupt noch hier unten?“
Wieder dieser vorwurfsvolle Ton. Als sei sie eine Spionin oder Diebin. Diesmal platzte ihr der Kragen.
„Sie haben mich doch hier eingesperrt!“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich meine, dass Sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen haben, als sie wegen dieses Anrufs in Ihr Büro gerannt sind.“
„Na und?“
„Na und?!“
Amelie klang hysterisch und ärgerte sich darüber.
„Kommen Sie mal mit“, sagte die Ärztin versöhnlich und nahm sie bei der Hand wie ein verlaufenes Kind. Die ältere Frau führte die jüngere zurück in den Aborterker, die Turmtreppen hoch und an die Tür zum Wohnbereich der Burg, die einen Spalt offenstand. Es klickte, als sie die Tür zuzog und der Schließer einrastete.
„Und jetzt versuchen Sie mal zu öffnen.“
„Wie denn? Da ist kein Türdrücker, nur ein Knauf.“
„Versuchen Sie es.“
Amelie drückte gegen die Tür, und federleicht sprang sie auf.
„Ein Türdrücker ist gar nicht nötig. Sehen Sie hier, den Schnappverschluss? Sie dachten, Sie seien eingesperrt, Sie Dummchen, und haben gar nicht versucht, sie zu öffnen, stimmt’s?“
„Doch schon“, sagte Amelie, aber war sich nicht mehr sicher. Sie ärgerte sich über die dreist-vertrauliche Frechheit, sie als Dummchen zu bezeichnen, aber sah sich trotzdem genötigt, ihrerseits Abbitte zu leisten: „Tut mir leid für meinen Ton.“
„Keine Ursache. Und jetzt beeilen Sie sich.“
„Wieso? Was meinen Sie?“
„Na, hatten Sie nicht dringend was zu erledigen?“
„Stimmt. Wo war noch mal...?“
„Ganz den Flur bis zum Ende, zwei Treppen runter, dann links durch die zweite Tür, den langen Gang halb entlang und am Abzweig rechts. Ab da ist dann ausgeschildert.“
„Wow!“
„Husch-husch! Danach gibt’s Frühstück.“
„An meinem 30. Geburtstag bekam ich eine Mail von meinem Kollegen Professor Steuderbacher aus Fegersheim im Elsass, der mir mitteilte... – was ist?“
Amelie hatte aufgehört zu schreiben und schaute, die Hände noch auf der Tastatur, über die Lehne des Rollstuhls hinweg auf den verknautschten Haarschopf ihres Arbeitgebers. Er hatte sich zum Fenster hin drehen lassen, stierte aber halb schräg auf den Boden und sprach so undeutlich, dass Amelie fast alles raten musste. Sie hatten sich vorab darauf geeinigt, dass sie jede fertige Word-Seite für eine kleine Pause nutzte und das Geschriebene vorlas, damit Bergenstroh es sofort korrigieren konnte.
„Sie meinen wohl ein Fax. Oder vielmehr einen Brief.“
„Wie bitte?“
„Sie sagten, an Ihrem 30. Geburtstag...“
„Ich weiß, was ich gesagt habe. Wo ist das Problem?“
„Na ja, ich selbst schrieb meine erste Mail vor über zehn Jahren. Ich weiß, das Internet gab es auch davor schon, aber...“
„Die Mail, die ich meinte, erreichte mich 2003. Ich hatte vorher keinen Netzzugang.“
„Aber...“
„Mir schon klar, dass ich aussehe wie 100, aber tatsächlich bin ich Jahrgang 1973.“
„Aber das ist doch...!“
„Was? Völlig unmöglich? Dann öffnen Sie mal den Bilder-Ordner. Nur zu!“
Mit zwei Klicks war Amelie im Explorer, stieß unter „Eigene Bilder“ auf einen einzigen Unterordner „Renovierung_Rittersaal_2009“ und klickte sich durch rund zwei Dutzend Fotos, die eingerissene Wände zeigten, Bauschutthaufen, eine Mörtelmaschine – und mittendrin jeweils einen auffallend kräftig gebauten, jugendlich wirkenden Mann mit nacktem Oberkörper, der verschwitzt und mit Dreck verschmiert mit der Kelle werkelte, Steine herumwuchtete und die Spitzhacke schwang.
„Das beim Renovieren? Das sind doch nicht Sie!“
„Vor nicht mal vier Jahren. Ich bin übrigens auch deutlich jünger als die Berkel. Deshalb genießt sie es so, mir jetzt in jeder Hinsicht über zu sein.“
„Kannten Sie sich schon vorher?“
„Vor meiner Krankheit? Nicht persönlich, aber... das würde jetzt zu weit
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