Toten-Welt (German Edition)
sie staunend, dass sie in diesem Turm übernachtet hatte.
Durch die Ritzen der rohen alten Fensterläden spießten kreuz und quer Sonnenstrahlen in die kahle Türmerwohnung, in die Bergenstroh sie einquartiert hatte. Das Milchglas der Schießscharten brach das Licht in tausend Strahlen und Punkte.
Amelie erschrak über ihre Situation, aber Banales gewann augenblicklich die Oberhand: Sie hatte keine frischen Klamotten griffbereit, hätte zu gern geduscht, aber besaß nicht mal einen Spiegel, um Haare und Make-up zu richten. Ihr Gepäck befand sich in einem Schließfach am Bahnhof, weil sie nicht wie ein Packesel zum Bewerbungsgespräch hatte antreten wollen und natürlich nicht damit gerechnet hatte, sofort anzufangen. Sie würde entweder ein Taxi rufen und erst mal zum Bahnhof fahren oder ihrem neuen Arbeitgeber so gegenüber treten müssen, wie sie war: zerzaust, zerknittert und verquollen.
Sie wollte die Beine über den Bettrand schwingen, aber hing irgendwie fest. Als sie sich aufrichten und die Hände zu Hilfe nehmen wollte, um die Bettdecke wegzuschlagen, ging auch das nicht.
Sie kam nicht hoch!
Es fühlte sich an, als sei sie zu einem Stück Holz erstarrt. Eine Sekunde, zwei Sekunden lang. Dann brach der Bann, die Anspannung entlud sich, und sie wälzte sich aus dem Bett.
Bergenstroh hockte im gegenüberliegenden Teil der Burg an einem Buntglasfenster und starrte einen Punkt an der Wand an, während ihm Speichel aus dem Mundwinkel in einem langen Faden in den Kragen lief. Seine rechte Hand hatte sich mit dem kleinen Finger an der Steuerung des Rollstuhls verhakt, einer Art Joystick mit einem Golfball als Griffkugel. Er trug den selben blauen Anzug wie am Vortag.
„Haben Sie hier im Sitzen übernachtet?“, fragte Amelie unbedarft und unangemessen scherzhaft. Aber sie hatte bereits begriffen, ehe sie ihm genug Zeit gelassen hatte zu verneinen, dass es genau so war, und sie erschrak.
Das war kein aufs Schreiben begrenzter Job – nicht mal dann, wenn sie nicht hier wohnte. Er brauchte Hilfe, ständig. Und mit der ersten kleinen Hilfeleistung, die ganz automatisch erfolgte, als sie ihm ein Papiertaschentuch für seinen Speichelfaden reichte, er es aus seiner zitternden Kralle fallen ließ, sie das Taschentuch aufhob und ihm gegen seinen lächerlichen Widerstand half, sich abzuwischen, mit diesem intimen Dienst bereits wurde sie hineingezogen und machte sich zur Pflegerin mit Nebenjob als Schreibkraft.
„Was ist mit Frühstück? Wo ist die Küche?“
Sie fragte nicht, weil es die naheliegendste Frage war und sie Hunger hatte, sondern um irgend etwas zu fragen und ihre dringlichste Frage zu vermeiden: Haben Sie keine Pflegerin? Wo zum Teufel steckt sie?
Mit Ekel dachte sie daran, dass sie, im Falle eines gemeinsamen Frühstückes, ihn womöglich würde füttern müssen. Und ihm zuschauen, wie er beim Kauen sabberte.
„Doch, sie ist...“
Er richtete die Augen auf ein Gewölbe, unter dem, kaum sichtbar im Schatten, eine eisenbeschlagene Holztür halb offen stand.
„Da unten ist die Küche?“
Es sah aus, als würde die Tür in einen Keller führen.
„Nein, dort unten lagern die Vorratspackungen für Herrn Bergenstrohs Magensonde. Unter anderem.“
Amelie zuckte zusammen, denn die Frauenstimme kam von schräg hinter ihr und ganz nah.
„Entschuldigung, ich bin Dr. Wicca-Maria Berkel, Herrn Bergenstrohs persönliche Ärztin.“
Amelie sah sich einer Frau gegenüber, die so gar nichts mit dem Bild einer Ärztin gemein hatte. Zu einer Multifunktions-Hose und Trekking-Schuhen trug sie ein buntes T-Shirt und eine Frisur, die aussah als hätte sie zwei verschiedenfarbige, aber gleichermaßen verfilzte Langhaar-Perücken schlampig übereinander gezogen. Ihre Haut sah aus wie geschecktes Leder. Der braune Plastikbeutel in ihrer Hand erregte Amelies Übelkeit.
„Keine Sorge, das ist eine ganz hygienische Angelegenheit. Das können Sie auch auswechseln, wenn’s mal drauf ankommt.“
Sie latschte in einem Wanderschritt, der perfekt zu ihren Schuhen passte, zu dem Rollstuhl mit Inhalt, klappte den Deckel eines Kästchens auf der Rückseite hoch, entnahm einen leeren Plastikbeutel, der dem in ihrer Hand bis auf die Prallheit glich, und befestigte flugs den neuen. Der Anblick der ausgesogenen Hülle erinnerte Amelie an die Fressattacke einer Spinne, die von ihrem Opfer nichts übrig gelassen hatte als die vertrocknete Form.
„Wohl bekomm’s, alter Knabe!“
Amelie hing noch halb bei ihrer
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