Totenblüte
Clive
sie
erdrosselt hätte. «Wussten Sie, dass er letzten Freitag etwas vorhatte?»
«Natürlich. Er macht nie etwas aus, ohne mich vorher zu fragen.»
«Und er hatte Ihnen etwas zu essen vorbereitet?»
«Ich sagte ja schon, er ist ein guter Junge. Wenn er da ist, kocht er meistens für mich. An dem Tag hat er aber nicht mitgegessen.» Sie rümpfte ein wenig die Nase. «Er bekam ja noch irgendein aufwendiges Essen bei diesem Fest.»
«Und am Mittwoch davor?»
«Da kam er ein bisschen später von der Arbeit als sonst, weil er auf dem Heimweg noch einkaufen war. Ich hatte schon auf ihn gewartet. Wenn man den ganzen Tag allein ist, freut man sich doch auf etwas Gesellschaft.»
«Er hat mir erzählt, dass er inzwischen kaum noch Auto fährt.»
«Stimmt.» Sie schwieg einen Augenblick. «Ich hatte ja immer große Freude an unseren Ausflügen mit dem Auto, aber er saß nie gern am Steuer. Und als der Wagen dann vor ein paar Jahren nicht mehr durch die technische Kontrolle kam, hat er ihn einfach gleich verschrotten lassen, statt ihn noch einmal zu reparieren. Er sagt, es ist besser für die Umwelt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Für mich wäre es natürlich schon praktisch. Er könnte mich immer in die Ambulanz vom Krankenhaus fahren.» Sie warf einen raschen Blick auf die Uhr an der Wand. «Haben Sie sonst noch Fragen? Jetzt kommt nämlich gleich die Quizsendung, die ich immer so gerne sehe, auf die freue ich mich den ganzen Tag.»
Vera beschloss zu gehen, bevor sie noch etwas sagte, wassie hinterher bereuen würde. Clives Alibi hatte sie ja überprüft. Und sie schaffte es einfach nicht, wie Joe Ashworth einen Spinner in ihm zu sehen, der junge Menschen umbrachte, weil er neidisch auf ihre Schönheit war. Depressiv war er sicher, aber wer konnte ihm das verdenken, mit so einer selbstsüchtigen Mutter am Hals?
Mary hatte den großen Fernseher eingeschaltet. Anfangs hatte Vera noch Mitleid mit ihr gehabt, doch jetzt schien es ihr, dass diese Frau sich ihr Leben genau so eingerichtet hatte, wie es ihr behagte. Sie stand auf. «Ich gehe dann mal. Sie brauchen mich nicht rauszubringen.»
Die zierliche Dame nickte. «Wenn es Sie nicht stört. Ich bin seit meiner Krankheit einfach nicht mehr so gut auf den Beinen.»
Vera schloss die Wohnzimmertür hinter sich und blieb draußen auf dem Flur stehen. Die Titelmelodie der Quizsendung verklang wieder, der Moderator machte einen Witz, und Mary lachte leise. Vera schob eine der Türen auf, die vom Flur abgingen. Im Zimmer dahinter lag ein dicker weißer Teppich auf dem Boden. Vera sah ein Doppelbett mit einer Tagesdecke aus rosafarbenem Frottéstoff, roch den typischen Altfrauengeruch nach benutzter Nachtwäsche und Puder. Die nächste Tür führte ins Bad. Ein kleiner Raum mit einer Duschvorrichtung über der Badewanne. Über den blauen Duschvorhang schwammen fröhlich grinsende Fische. Hier roch es ein wenig männlicher. Duschgel? Rasierwasser? Vera musterte die Fläschchen und Tiegel im Regal. Clive schien auf sein Aussehen zu achten – vielleicht in der Hoffnung, irgendwann doch noch eine Frau zu finden, einen Vorwand, seine Mutter endlich zu verlassen?
Schließlich stand sie vor der Tür zu Clives Zimmer. Sie war nicht angelehnt, aber auch nicht abgeschlossen, undließ sich mit einem leisen Klicken öffnen. Die Vorhänge waren zugezogen, Vera musste das Licht einschalten. Irgendwie hatte sie einen staubigen Raum voller Tierpräparate erwartet, ähnlich der Werkstatt im Museum, doch das Zimmer wirkte ordentlich, fast unpersönlich. Ein schmales Bett, ein passender Kleiderschrank aus Kiefernholz, eine ebenfalls passende Kommode. Ein Bücherregal mit den gängigen Vogelbestimmungsbüchern. In einer Ecke lag eine Leinentasche, aus der ein Fangnetz schaute. Offenbar hatte Clive das Beringen noch nicht völlig aufgegeben. Ein paar Fantasyromane, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Nachttisch. Ein Schreibtisch mit dem unvermeidlichen Rechner darauf. Ein Schachbrett. Keinerlei Bilder an den Wänden. Das Zimmer wirkte, als wäre der Bewohner sich darüber im Klaren, dass seine Mutter freien Zugang hatte, als achtete er deshalb darauf, dass es nichts über ihn verriet. Nur auf dem Nachttisch stand ein Foto, dort, wo man sonst das Foto einer Freundin oder Geliebten erwarten würde. Doch dieses Bild zeigte die vier Freunde: Clive linkisch und schüchtern, Gary lachend neben ihm, und rechts und links von ihnen Peter Calvert und Samuel Parr. Es war am Leuchtturm
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