Totenblüte
herausgeputzt. ‹Und, wo fährst du mit mir hin?› Irgendwie hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass wir an dem Tag einen Ausflug zusammen machen würden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich habe ich sie einfach nach Hause zu ihrer Mutter gebracht. Als ihr klarwurde, was passiert, hat sie angefangen zu heulen. Es war schrecklich. Danach fing das mit den Anrufen an. Sie rief ein paar Dutzend Mal am Tag an. Mir war inzwischen klar, dass sie krank sein muss, ich habe versucht, verständnisvoll zu sein, aber es hat mich richtig mürbegemacht. Und meine Eltern sind fast wahnsinnig geworden. Wir haben unsere Telefonnummer geändert, den Eintrag aus dem Telefonbuch genommen. Ich weiß nicht, ob sie irgendwann in Behandlung war oder ob es einfach von allein wieder aufgehört hat. Das nächste Vierteljahr hatten wir nicht viel Schule, damit wir für die Prüfungen lernen konnten. Ich habe sie nicht oft gesehen. Meist nur aus der Ferne, auf dem Weg von einem Klassenzimmer ins andere. Aber ich habe auch alles dafür getan, dass sie mir fernblieb.»
«Haben Sie sie seither noch einmal gesehen?»
«Nein. Sie war nicht mal in der Schule, als wir unsere Abschlusszeugnisse bekamen. Wahrscheinlich war ihr klar, dass sie nicht gerade gut abgeschnitten haben konnte, und sie hätte es nicht ertragen, uns feiern zu sehen.»
«War sie seither einmal stationär im St. George’s? Oder auch ambulant in der Tagesklinik?»
«Ich habe sie dort nie gesehen.»
«Aber Sie müssen doch neugierig gewesen sein», sagte Vera. «Sie sagten doch schon, dass Sie sich teilweise ihretwegen auf die Sozialarbeit spezialisiert haben. Haben Sie denn nie herauszufinden versucht, ob sie irgendwo in Behandlung ist? Ich hätte das an Ihrer Stelle getan.»
Er antwortete nicht gleich. «Ich denke immer noch viel an sie», sagte er schließlich. «Sie war meine erste richtige Freundin. Und wahrscheinlich die schönste Frau, die mir je begegnet ist.» Dann sah er Vera an. «Wenn Sie wissen wollen, ob sie irgendwo in Behandlung war, müssen Sie sich an das medizinische Personal wenden. Aber Sie haben schon recht. Natürlich war ich neugierig. Ich konnte sie nur nirgends finden.»
Die Wirtin kam, um ihre Teller abzuräumen, und Ben Craven erhob sich. Vera blieb sitzen, er stand da und sah sie an. Ihm war klar, dass sie noch eine Frage hatte.
«Sagt Ihnen der Name Claire Parr etwas? Sie war Ende dreißig, schwer depressiv. Sie hat Selbstmord begangen.»
«Nein», antwortete er. Vera spürte, dass er schnell zur Arbeit zurückwollte.
«Spielt auch keine Rolle.» Sie sprach halb zu sich selbst. «Das war vermutlich sowieso vor Ihrer Zeit.»
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
Vera rief vom Wagen aus bei Clive Stringer zu Hause an. Sie hatte hinter den Dünen gehalten und schaute auf den Strand hinaus. Am Ufer spazierte mit gesenktem Kopf ein alter Mann entlang. Hin und wieder bückte er sich, hob ein Stück Seekohle auf und steckte es in seine Aldi-Tüte. Vera vermutete, dass er inzwischen wohl in einer Genossenschaftswohnung mit Zentralheizung lebte, die alte Gewohnheit aber trotzdem nicht ablegen konnte.
Sie wählte die Nummer auf ihrem Handy. Es klingelte und klingelte (am anderen Ende war wohl kein Anrufbeantworter angeschlossen), und Vera wollte gerade wiederauflegen, da meldete sich doch noch eine Frauenstimme, indem sie die Nummer des Anschlusses aufsagte. Sie klang zittrig und außer Atem.
«Mrs Stringer?»
«Ja?» Ihr Ton war misstrauisch, sie schien zu glauben, dass Leute ihr am Telefon grundsätzlich etwas aufschwatzen wollten. Vielleicht hatte ihr Sohn ihr auch eingeschärft, gleich wieder aufzulegen, wenn Fremde anriefen.
«Mein Name ist Vera Stanhope, Mrs Stringer. Ich bin von der Polizei. Clive hat Ihnen ja sicher schon gesagt, dass ich mich melden würde. Es geht um die junge Frau, die er beim Leuchtturm tot aufgefunden hat.»
«Ich weiß nicht recht …»
«Ist Clive denn zu Hause? Vielleicht kann ich ja mit ihm reden.» Sie drückte die Daumen beider Hände, obwohl ihr das Telefon dabei fast herunterfiel. Jetzt, am frühen Nachmittag, musste er eigentlich im Museum sein.
«Er ist bei der Arbeit. Am besten reden Sie dort mit ihm.»
Wieder hatte Vera das Gefühl, dass die Frau gleich auflegen würde.
«Hören Sie, in etwa einer halben Stunde bin ich bei Ihnen in der Gegend. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich kurz vorbei, dann unterhalten wir uns.»
«Mir wäre es aber wirklich lieber, wenn Sie warten, bis
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