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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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schon solche Felicity-Phantasien gehabt, davon war Gary überzeugt, vor allem früher, als sie noch jünger war. Aber auch jetzt waren sie alle noch verknallt in sie. Manchmal ertappte er Clive dabei, wie er sie anstarrte, mit leicht offenem Mund. Er war sich nicht sicher, ob Clive überhaupt jemals mit einer Frau zusammen gewesen war. Ein paarmal hatte er ihm schon angeboten, mit ihm auszugehen, doch Clivehatte immer abgelehnt. Vielleicht war es ihm lieber, über Felicity zu phantasieren, als wirklich mit einer Frau zusammen zu sein.
    Es war schon ziemlich spät fürs Abendessen, selbst für Garys Verhältnisse, und er war nun wirklich an seltsame Essenszeiten gewöhnt. Sie hatten beim Leuchtturm warten müssen, bis die Polizei kam, hatten erklären müssen, weshalb sie dort waren, und alle Name und Anschrift angeben müssen. Und dann noch der Weg zurück. James, Felicitys kleiner Sohn, der ihm gegenübersaß, schlief schon fast über seinem Teller ein. Irgendwann wurde er noch einmal wacher und wollte über die Tote reden.
    «Was ist denn eigentlich mit ihr passiert?»
    «Ich weiß es nicht», antwortete Felicity. «Wahrscheinlich ein schlimmer Unfall.»
    Gary wusste, dass das nicht stimmte. Alle Erwachsenen wussten, dass es kein Unfall gewesen sein konnte. Das war Mord, und zwar vorsätzlicher. Das bewiesen allein schon die Blumen.
    «Wenn sie zu uns ins Gartenhaus gezogen wäre», sagte James in quengeligem Ton, «hätte sie mir immer mit den Hausaufgaben helfen können.»
    Gary hatte keine Ahnung, worauf sich diese Bemerkung bezog, und war auch schon zu betrunken, um sich näher damit zu befassen. Felicity gelang es, James zum Schlafengehen zu überreden. Sie nahm ihn in die Arme, trug ihn halb ins Haus, und die Männer blieben allein zurück. Irgendwo in den hohen Eichen, die die Straße hinter ihnen säumten, rief ein Waldkauz. Vor den kleinen Lämpchen flatterten die dunklen Schatten von Fledermäusen. Bei anderen Gelegenheiten, anderen Geburtstagen hatte Gary diesen Moment immer am meisten genossen, wenn sie nach dem Essen zu viert zusammensaßen, so entspannt,wie es ihm sonst mit niemandem möglich war – manchmal schweigend, manchmal in Gespräche über frühere Großtaten vertieft oder Pläne für die Zukunft schmiedend. Gemeinsame Reisen ins Ausland, das ultimative Buch über die Vogelpopulation Northumberlands. Doch heute waren sie irgendwie befangen, als läge die tote junge Frau hier in ihrer Mitte auf dem Tisch und forderte, vor Meerwasser triefend, dass man sie nicht vergaß.
    «Was hat James denn damit gemeint?», fragte Samuel. «Wollte die Tote etwa hier einziehen?»
    «Nein!», beteuerte Peter. «Was weiß denn ich, was der Junge sich so alles einbildet?»
    Danach verfielen sie wieder in unbehagliches Schweigen.
    Schließlich kam Felicity zurück und räumte den Tisch ab. Sie brachte eine Käseplatte nach draußen und bot allen Kaffee an. Peter entkorkte eine weitere Flasche Wein, und Felicity nahm wieder ihren Platz neben ihm ein. Jetzt kam Samuel noch einmal auf die Tote zu sprechen. Er wollte wissen, woher James sie gekannt habe, doch diesmal richtete er die Frage an Felicity.
    «Sie hieß Lily Marsh», antwortete Felicity. «Sie war Referendarin an James’ Schule.» Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber von einer Stimme unterbrochen, die so laut war, dass alle zusammenzuckten. Gary spürte seinen Puls rasen. Er fragte sich, ob er wohl schon in dem Alter war, ab dem man als herzinfarktgefährdet galt, und nahm sich wieder einmal vor, in Zukunft weniger zu trinken. Er wollte schließlich nicht sterben. Vor allem nicht jetzt.
    «Hallo? Jemand zu Hause?» Die Stimme klang tief und schroff, und Gary war sich nicht sicher, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. Dann erschien eine Gestalt in der Fenstertür, die auf die Terrasse hinausführte. Eine Frau.Groß und massig zwar, aber sie trug eindeutig einen Rock. Sie hatte im Wohnzimmer Licht gemacht und hob sich nur als Umriss davor ab. «Sie sollten Ihre Haustür nicht so einfach offen stehen lassen», sagte sie in dem strengen Ton, mit dem eine Lehrerin zu ihren dummen Schülern spricht. «Auch nicht, wenn Sie zu Hause sind. Man weiß nie, wer so alles reinspaziert.»
    Sie schienen alle noch unter Schock zu stehen und starrten sie einfach weiter an. Sie kam auf die Terrasse herunter, bis sie direkt vor dem Tisch stand. Die Kerze erhellte ihr Gesicht von unten. Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach, und Gary dachte sich, dass hier

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