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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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hatten sie praktisch nichts gemeinsam, und Gary konnte sich nicht einmal erinnern, durch welchenZufall sie überhaupt ins Gespräch gekommen waren. Wahrscheinlich hatte er irgendeine Bemerkung gemacht und sein Interesse damit verraten. Normalerweise passte er damals besser auf, was er sagte. Er wollte schließlich nicht, dass die ganze Schule von seinem Hobby erfuhr. Er hatte einen Ruf zu verlieren. Dass es noch jemanden gab, der sich so für die Natur begeisterte wie er, war eine Offenbarung gewesen. Von da an gingen Clive und er gemeinsam Vögel beobachten. Sie wählten Gebiete, die man mit dem Bus erreichen konnte. Den See in Seaton. St.   Mary’s Island. Den Friedhof von Whitley Bay.
    Und eines Tages, als sie im Unterstand von Seaton hockten und darauf warteten, einen Temminckstrandläufer zu sichten, entdeckten sie stattdessen Peter Calvert. Den berühmten Doktor Calvert, der Aufsätze in der Zeitschrift
British Birds
veröffentlichte und eine Zeit lang sogar Vorsitzender der Seltenheitskommission gewesen war. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte – nicht gerade die klassische Vogelbeobachtungs-Ausrüstung. Vielleicht hatte er ja ihre erstaunten Blicke bemerkt und geglaubt, seine Aufmachung erläutern zu müssen. Möglich, dass er deswegen ein Gespräch mit ihnen begonnen hatte. Er erzählte, er komme gerade von einer Beerdigung. Die Frau seines besten Freundes war gestorben. Die anderen Gäste waren alle noch geblieben, um etwas zu trinken, aber er hatte es nicht über sich gebracht. Zumindest jetzt noch nicht.
    Dann schlug er den beiden Amateur-Vogelkundlern vor, dass sie ihm beim Beringen der Zugvögel helfen könnten. Er würde es ihnen beibringen. Ganz beiläufig sagte er das. Ihm schien gar nicht klar zu sein, was er ihnen damit für eine Freude machte. Es gebe noch einen zweiten Ausbilder, sagte er. Samuel Parr. Der werde sich sicher auch um siekümmern. Jetzt, nachdem er seine Frau beerdigt hatte, könne Sam sicher etwas Ablenkung brauchen. Außerdem konnte die ganze Mannschaft in Deepden ein bisschen junges Blut gut vertragen. Von da an verbrachten Gary und Clive praktisch jedes Wochenende im Vogelobservatorium Deepden an der Küste, schliefen auf den Pritschen im Schlafsaal des angeschlossenen Bungalows und waren jeden Tag mit der Morgendämmerung auf den Beinen, um Netze aufzuspannen und Vögel zu beringen. So waren sie Freunde geworden.
    Jetzt merkte Gary, dass die Polizistin ihn immer noch ansah. «Also?», fragte sie. «Was wollten Sie auf dem Ausguck, wenn es Ihnen nicht darum ging, Seevögel zu beobachten?»
    «Es besteht doch immer die Möglichkeit», sagte er, «dass irgendwas Tolles vorbeifliegt. Aber wir hatten einen Spaziergang dorthin gemacht. Das machen wir jedes Jahr so an Peters Geburtstag.»
    «Also ein Ritual?»
    «Ja. Irgendwie schon.» Gary fragte sich, warum sich sonst niemand am Gespräch beteiligte. Wieso überließen sie eigentlich ihm das Reden?
    Vera sah ihn weiter unverwandt an. Sie hatte die Beine von sich gestreckt; ihre großen, nicht gerade gepflegten Füße steckten in Sandalen.
    «Wie heißen Sie, Herzchen?»
    «Gary Wright.»
    Sie zog ein Notizbuch aus ihrer großen, weichen Lederhandtasche, schlug es auf und las sich ihre Notizen noch einmal durch. Gary vermutete bloße Effekthascherei dahinter. Sie kannte die Fakten doch bereits. Vermutlich hatte sie ihn schon in dem Moment identifiziert, als sie sich an den Tisch gesetzt hatte.
    «Und Sie wohnen in North Shields?»
    Er nickte.
    «Sind Sie ganz sicher, dass Sie das Mädchen nicht gekannt haben? Ich frage nur, weil ich den Eindruck habe, dass Sie ganz gern die Sau rauslassen. Zwei Verwarnungen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses im Vollrausch, eine Vorstrafe wegen Drogenbesitzes.»
    Gary hob den Kopf. Er war plötzlich wieder völlig nüchtern. «Das ist doch Jahre her. Sie haben kein Recht   …»
    «Ich ermittele in einem Mordfall.» Ihre Stimme klang messerscharf. «Da habe ich so ziemlich jedes Recht. Sind Sie sicher, dass sie Ihnen nie über den Weg gelaufen ist?»
    «Ich kann mich jedenfalls nicht an sie erinnern. In der Stadt wimmelt es doch nur so von Studentinnen.»
    «Und Sie haben sie auch nicht bei der Arbeit kennengelernt?»
    «Beruf und Vergnügen halte ich strikt getrennt.» Gary begriff gar nicht, weshalb sie ihn so aufs Korn nahm, und wurde von einer irrationalen Panik erfasst. Die beruhigende Wirkung des Weines war wie weggeblasen. «Meine Arbeit ist mir

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