Totenblüte
wohl jemand einen Sinn fürs Dramatische hatte.
«Inspector Vera Stanhope von der Polizei Northumbria. Ich leite die Ermittlungen im Fall der jungen Frau, die Sie heute gefunden haben.» Sie zog sich den Stuhl heran, auf dem James gesessen hatte, und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Es war ein Regiestuhl mit Holzrahmen. Die Leinwandbespannung knarrte gefährlich. Gary sah genau hin und rechnete schon damit, den Stoff reißen zu hören. Ihr schien es ähnlich zu gehen. Eine Frau wie sie war sicher immer auf solche peinlichen Situationen gefasst. Doch die Stuhlbespannung hielt, und Vera wandte sich gutgelaunt an Felicity. «Dann kannten Sie sie also? Die junge Tote, meine ich. Sagten Sie nicht gerade …»
Felicity zögerte zunächst mit der Antwort, schaute ein paarmal zu Peter hinüber. Gary wusste nicht recht, was das sollte. Dann wiederholte sie das, was sie vor Vera Stanhopes theatralischem Auftritt gesagt hatte.
«Sie hieß Lily Marsh. Sie war Referendarin an der Schule meines Sohnes, der Grundschule in Hepworth. Gestern kam sie zusammen mit ihm mit dem Schulbus hierher. Anscheinend hatte James ihr angeboten, sie könne bis zumEnde des Schuljahrs bei uns im Gartenhaus wohnen. Ohne uns vorher zu fragen, allerdings.»
«Das hast du mir gar nicht erzählt», sagte Peter.
«Es gab ja auch nichts zu erzählen. Sie hat sich das Häuschen angeschaut und ist wieder gegangen.»
«Dann haben Sie ihr also gesagt, sie könne dort einziehen?», fragte Vera Stanhope.
«Ich glaube, das hatten wir beide noch nicht endgültig entschieden. Ich wusste ja nicht einmal genau, ob ihr das Häuschen überhaupt gefiel. Sie sagte, sie wolle es sich noch überlegen.» Felicity sah Peter an, und Gary merkte, wie sie ihn innerlich anflehte, keinen Aufstand zu machen und ihr eine Standpauke zu halten. Gary war Peter von Herzen zugetan, aber manchmal konnte er tatsächlich sehr überheblich sein. «Wenn die junge Frau ernsthaftes Interesse geäußert hätte, hätte ich natürlich erst mit dir besprochen, ob wir das Gartenhaus an sie vermieten wollen. James schien sie sehr zu mögen.»
«Kannte sonst noch jemand von Ihnen diese Lily Marsh?» Die Polizistin schaute eindringlich in die Runde, und es gelang ihr, dass man sich schuldig fühlte, auch wenn man gar nichts getan hatte. «Sie war ja ein sehr hübsches Mädchen. So eine vergisst man sicher nicht so schnell.»
Allgemeines abwehrendes Gemurmel und Kopfschütteln.
«Erzählen Sie mir noch einmal, wie Sie die Leiche gefunden haben. Der Junge hat sie ja als Erster entdeckt, danach sind Sie dazugekommen. War sonst noch jemand in der Nähe?»
Clive hob die Hand. Wie ein Schuljunge, dachte Gary. Ein schüchterner, ängstlicher Schuljunge. «Auf der Grasfläche am Bach waren Leute. Ein Vater mit seinen zwei Söhnen, glaube ich. Sie haben Fußball gespielt.»
«Standen irgendwelche Autos am Leuchtturm geparkt?»
Wieder antwortete Clive. «Ein Kleinbus. So ein großer Renault. Hellbraun. An das Kennzeichen erinnere ich mich nicht, aber er war letztes Jahr registriert.»
«Woher wissen Sie das denn alles so genau?»
Clive ging sofort in die Defensive. «Ich merke mir eben Dinge. Details. Das kann ich einfach gut.»
«Was hatten Sie denn überhaupt bei dem Ausguck zu suchen? Für Seevögel ist es ja wohl nicht die richtige Jahreszeit, außerdem war Ebbe.»
«Was wissen Sie denn über Seevögel?» Gary war mit der Frage schon herausgeplatzt, bevor er sich zurückhalten konnte.
Sie sah ihn an und lachte. «Mein Vater war ein großer Vogelfreund, da kriegt man so einiges mit. Es geht einem in Fleisch und Blut über. Manchmal hat er mich auch an die Küste mitgenommen, aber die Berge waren ihm eigentlich viel lieber. Er hatte eine Schwäche für Raubvögel.» Sie schwieg einen Moment. «Ist es das, was Sie alle verbindet? Vögel beobachten?»
«Ja.» Gary fragte sich, ob sie wohl mehr über die Vogelkunde würde wissen wollen. Er für seinen Teil hatte sich immer für Vögel interessiert, seit er mit zehn Jahren ein altes Vogelkundebuch in der Schulbücherei entdeckt hatte. Seither waren die Vögel seine Obsession, es war fast wie ein Zwang. Mit der Musik war es ähnlich gewesen, obwohl sich das eigentlich nicht vergleichen ließ. Musik war gesellig, man teilte sie mit Freunden. Die Leidenschaft fürs Vogelbeobachten hielt er zunächst geheim. Anfangs sammelte er vor allem Vogeleier im Park. Dann hatte er in der Schule Clive Stringer kennengelernt. Bis auf die Vogelbegeisterung
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