Totenblüte
hineingeworfen hatte. Außerdem schienen sie einen unregelmäßigen Kreis zu bilden. Dann sah sie, mittendrin, den blauen Stoff eines Rockes, das weizenblonde Haar. Das Wasser war so seicht, dass es den Körper kaum bedeckte, es spielte mit dem leichten Stoff und bewegte sanft das Haar. Doch die Senke insgesamt war recht tief, die ganze Szene lag im Halbschatten. Es war, als würde man aus großer Entfernung ein Gemälde betrachten.
«James», rief Felicity. «Komm hier rauf. Komm her zu mir, Schatz.» Sie zweifelte daran, dass sie es bis zu ihm hinunter schaffen würde, und ihr war vor allem daran gelegen, dass er aufhörte zu schreien. Ihre Stimme schien den Bann zu brechen, der Junge drehte sich um und kraxelte zu ihr herauf. Sie schloss ihn in die Arme und starrte über seinen Kopf hinweg auf die Gestalt im Tümpel.
Hätte Lily das farbenfrohe Kleid vom Tag zuvor getragen, hätte Felicity sie möglicherweise gleich erkannt, doch so war sie überzeugt, eine Fremde vor sich zu haben. Wie erstarrt stand sie da, ihren Sohn fest im Arm. Sie wusste, dass es etliches gab, was jetzt zu tun war. Sie hatte schließlich genug melodramatische Filme im Fernsehen gesehen, Ärzte, die Herzmassagen vornahmen, Mund-zu-Mund-Beatmungen durchführten. Doch das überforderte sie völlig. Lauter dumme kleine Ausreden schossen ihr durch den Kopf.
Wenn ich jetzt eine Jeans anhätte, würde ich es versuchen. Wenn ich nur vernünftige Schuhe anhätte.
Dann kamen die anderen hinzu. Und zeigten sich kaumhandlungsfähiger als Felicity. Als sie die vier in die Senke hinunterstarren sah, überfiel sie der fürchterliche Drang loszulachen. Plötzlich löste James sich von ihr und sah sie an.
«Mum», fragte er, und seine Stimme klang fast wieder normal, höchstens ein wenig zittrig, als wäre er außer Atem. «Warum liegt Miss Marsh da im Tümpel?»
Da wurde auch Felicity klar, dass es Lily war.
KAPITEL ELF
Sie saßen an dem langen Tisch auf der Terrasse von Fox Mill. Es war bereits dunkel; für die Beleuchtung sorgten eine Lichterkette, die Felicity wohl schon früher am Tag außen am Haus befestigt hatte, und eine einzelne, dicke Kerze, die schon fast heruntergebrannt war. Gary fühlte sich reichlich eigenartig. Irgendwie wirkte das alles wie ein Bühnenbild auf ihn. Wie in der Oper. Der ganze Abend war schon so melodramatisch gewesen. Er konnte sich direkt vorstellen, dass jeden Moment eine dicke Frau nach draußen treten und mit ausgebreiteten Armen eine Arie in den dunklen Garten schmettern würde. Manchmal machte er die Technik bei einer Opernaufführung in der Stadthalle. Teilweise gefiel ihm das sogar ganz gut, aber es war doch alles dermaßen übertrieben, dass man es einfach nicht für real halten konnte.
Er hatte zu viel getrunken. In letzter Zeit hatte er versucht, den Alkohol etwas zu reduzieren, und es war auch längst nicht mehr so schlimm wie früher, nachdem Emily ihn verlassen hatte. Damals war er eigentlich nur nüchtern gewesen, wenn er Vögel beobachten ging. Aber heute gabes ja eine Entschuldigung. Peter hatte Geburtstag. Und sie waren in einen Mordfall verstrickt. Er sah die Tote noch vor sich, wie ein Seestern direkt unter der Wasseroberfläche, übersät mit Blumen. Der Anblick hatte ihn an eine Collage erinnert, wie man sie manchmal in der Baltic Art Gallery in Gateshead hängen sah. Zerschnittene Netze und Schnüre, Tang und Muschelschalen. Richtig schön, wenn einem so was gefiel. Er griff nach der Rotweinflasche, schenkte sich nach und war froh, dass seine Hand dabei nicht zitterte und er nichts verschüttete.
Felicity tischte das Essen auf, und es war genauso toll wie immer. Ein großer Topf Huhn, das nach Zitrone und Kräutern duftete. Gary wusste sonst niemanden, der so gut kochen konnte wie sie. Seit er Peter kannte, hatte er immer gedacht, dass er genau das auch wollte – nicht nur solches Essen natürlich, sondern eine solche Familie, eine solche Frau. So hatte er sich das vorgestellt, als er Emily den Antrag machte. Inzwischen fragte er sich, ob das alles nicht doch zu bilderbuchmäßig war, um echt zu sein. Als wären sie Teil einer Inszenierung. Die Calverts in ihrem glücklichen Heim. Vielleicht mache ich ja die Technik dabei, dachte er und stellte sich vor, wie er ein Mikro am Ausschnitt von Felicitys schlichtem schwarzem Kleid befestigte. Bestimmt war ihre Haut noch warm von der Sonne. Er wäre ihr nahe genug, um ihr Parfum riechen zu können und das Shampoo, das sie benutzte. Sie hatten alle
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