Totenblüte
verbreitet hatte, nachdem sie vom Tod ihrer Tochter erfahren hatte. Ob sie es für ehrenrührig hielt, dass das Mädchen einem Mord zum Opfer gefallen war? Für ungehörig? So oder so würde man ihr dieses Märchen nicht lange glauben.
«Lily wurde erdrosselt. Genau wie Luke Armstrong.»
«Wollen Sie damit sagen, dass die beiden Morde zusammenhängen?»
Und schlau ist er auch noch. Nicht einfach nur ein hübsches Gesicht.
«In diesem Teil Northumberlands ereignen sich sonst nicht gerade viele Gewaltverbrechen», sagte sie und kümmerte sich nicht darum, wie sarkastisch das klang. «Zumindest nicht innerhalb einer Woche.» Dann setzte sie mit eindringlichem Blick hinzu: «Es scheint Sie ja nicht sonderlich zu schockieren. Dabei ist es doch eine schreckliche Geschichte. Und Sie standen ihr früher einmal sehr nahe.»
Ben Craven hielt ihrem Blick stand. «Natürlich bin ich schockiert. Allerdings nicht erstaunt. Zumindest nicht übermäßig. Ich glaube ja eigentlich nicht an Opfermentalitäten, aber mit Lily hatte man es wirklich nicht ganz leicht, vor allem nicht, wenn man ihr nahestand. Es gab Momente, da hätte auch ich sie am liebsten umgebracht. Dabei konnte sie nichts dafür. Das war mir damals schon klar. Ich wollte das verstehen lernen. Vielleicht bin ich deshalb zu diesem Beruf gekommen. Aber trotzdem hätte ich sie manchmal am liebsten erwürgt.»
«Erzählen Sie mir mehr.»
«Ich war total verliebt in sie», sagte er. «Diese wahnsinnige, rauschhafte Leidenschaft, die man nur erlebt, wenn man noch nicht zwanzig ist. Ich wollte Gedichte für sie schreiben, jede Sekunde meines Lebens mit ihr verbringen …»
«Sie um den Verstand vögeln», setzte Vera angelegentlich hinzu.
Craven musste lachen. «Ja, das wohl auch. Aber auf eine sehr viel lyrischere, romantischere Weise. Wir hatten gerade D. H. Lawrence gelesen, und ich malte mir aus, dass esdraußen im Mondschein passieren würde, auf einem Heuballen. So was in der Art. Man ist ja so schrecklich großspurig, wenn man jung ist, finden Sie nicht?»
Vera musste an Luke Armstrong und Thomas Sharp denken, die Zeugs auf Baustellen geklaut hatten, am Kai herumgeblödelt, sich gegenseitig verteidigt hatten, wenn sie angegriffen wurden. Das gilt wohl nicht für alle, dachte sie. Eine stämmige Dame trat an den Tisch und brachte ihnen das Essen. Vera wartete, bis sie wieder an der Theke war, dann fragte sie: «Und hat die Realität Ihren Erwartungen entsprochen?»
«Anfangs schon.»
Sie hätte ihn gern gefragt, ob sie es tatsächlich draußen getrieben hatten, so wie er es sich ausgemalt hatte, fand die Frage dann aber selbst geschmacklos. Anscheinend war sie auch nicht besser als diese jämmerlichen, alternden Polizeibeamten, deren Tag schon gerettet war, wenn sie einen Stapel sichergestellter Pornohefte durchsehen mussten.
Bevor sie ihn bitten konnte fortzufahren, erzählte er schon von selbst weiter. «Es war im Herbst, am Anfang unseres vorletzten Schuljahres. Da hatte ich endlich den Mut, sie zu fragen, ob sie mit mir ausgeht. In der Stadthalle spielte eine Band, von der ich wusste, dass sie sie mag. Ich hatte Karten besorgt, dann habe ich sie gefragt, ob sie mitkommt. Ich hatte gerade meinen Führerschein gemacht und habe meine Mutter überredet, mir das Auto für den Abend zu überlassen. Sonst wäre man so spät ja gar nicht mehr nach Hause gekommen. Und als ich sie gefragt habe, ob sie mitkommt, war ich so was von nervös. Ich weiß noch, ich habe richtig gezittert. Wir standen an der Bushaltestelle auf dem Weg zur Schule. Wir waren beide etwas früh dran, da habe ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Es war einerdieser wunderschönen Oktobertage, die es manchmal gibt. Sonnig, mit einem Hauch von Frost. Ich habe mich ständig verhaspelt und mich gefühlt, als wäre ich ungefähr acht. Aber sie hat gelächelt. Da wusste ich, dass alles gut wird. ‹Ich dachte schon, du fragst mich nie.› Mehr hat sie nicht gesagt. Dann sind auch schon die anderen aufgetaucht, die auch immer mit dem Bus fuhren.»
«Und wann war die schöne Stimmung zwischen ihnen vorbei?», fragte Vera trocken.
«Im Jahr danach, kurz vor Weihnachten. Wir mussten uns auf unseren Abschluss vorbereiten. Für sie war das eigentlich noch viel wichtiger als für mich. Sie hatte einen vorläufigen Studienplatz in Oxford bekommen. Aber plötzlich war es ihr nicht mehr wichtig, für die Prüfungen zu lernen. Sie wollte mich jeden Abend sehen, obwohl wir schon den ganzen Tag
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