Totenblüte
machte, mit ihr zusammen zu sein. Vielleicht fürchtete er ja, die Polizistin könnte an seine Tür hämmern und Einlass begehren, während sie sich gerade liebten. Das wäre sicher furchtbar für ihn: in einer Situation ertappt zu werden, über die er keine Kontrolle hatte. Offenbar hatte sich auch ihre Beziehung zu Samuel grundlegend verändert, seit sie Lily Marshs Leiche gefunden hatten.
«Ich muss jetzt Schluss machen», sagte er. «Sie brauchen mich vorne an der Ausleihe.» Damit beendete er das Gespräch, ohne sich richtig von ihr zu verabschieden.
Felicity blieb noch einen Moment sitzen und sah aus dem Fenster zum Leuchtturm hinüber, der durch den Hitzedunst schimmerte. Dann griff sie wieder zum Hörer und rief bei der Polizei an.
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
Vera hatte sich mit Ben Craven in einem Tageszentrum für psychisch Kranke verabredet. Einmal wöchentlich betreute er dort Patienten, die wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden waren. Die Einrichtung lag am Rand einer Küstenstadt, die früher einmal für ihre Hafenanlagen bekannt gewesen war, inzwischen aber nur noch einen zweifelhaften Ruf als Drogenzentrum des Nordostens von England genoss.
Auf der Fahrt legte Vera einen Zwischenhalt bei der Bibliothek im Zentrum ein, einem gotisch anmutenden Backsteinbau mit Uhrenturm und einem gewaltigen Gemälde im Eingangsbereich, das ein Schiff mit geblähten Segeln zeigte. In einem Regal mit der Aufschrift
Einheimische Autoren
entdeckte sie eine Kurzgeschichtensammlung von Samuel Parr. Wie er es wohl fand, in dieser Kategorie präsentiert zu werden? Empfand er das als Auszeichnung? Oder hieß es einfach nur, dass er nicht gut genug war, um in die Regale mit den richtigen Autoren eingeordnet zu werden? Vera blätterte ein wenig in dem Buch, konnte die Geschichte, die sie im Radio gehört hatte, aber nicht finden. Schließlich beschloss sie, es trotzdem auszuleihen. Als sie der Bibliothekarin das Buch und ihren Benutzerausweis reichte, sagte diese: «Ein reizender Mann. Vergangenes Jahr war er zu einer Lesung hier. Und er arbeitet ja auch bei uns.»
Das erinnerte Vera wieder an ihre Unterhaltung mit Samuel Parr. Er hatte ihr doch versprochen, ihr zu sagen, was Lily Marsh gelesen hatte. Aus Neugier, aber auch, weil es sie interessierte, wie Parr auf diese Anfrage reagieren würde, beschloss sie, noch einmal nachzufragen. Vom Auto aus wählte sie die Nummer der Bibliothekszweigstelle in Morpeth und ließ sich zu ihm durchstellen.
«Aber ja, Inspector. Lassen Sie mich kurz im System nachschauen. Wie war noch gleich der Name? Lily Marsh?»
Was ist denn das jetzt für ein Spielchen?, dachte Vera. Er wusste doch ganz genau, wie die Frau hieß. Er hatte schließlich ihre Leiche gefunden.
«Ihr Konto enthält keine Ausleihen mehr, Inspector. Ich fürchte, ich kann Ihnen also nicht weiterhelfen.»
Vera beendete das Gespräch. Irgendwie war sie enttäuscht.
Das psychiatrische Tageszentrum war in einem ehemaligen Kindergarten untergebracht, und schon beim Eintreten hatte Vera das ungute Gefühl, dass hier alle, einschließlich der Betreuer, in ein frühes Kindheitsstadium regrediert waren. In einem der Gruppenräume fand gerade eine Kunststunde statt. Die Patienten trugen rote Schürzen, damit sie sich nicht mit Farbe bekleckerten, und arbeiteten mit dicken Pinseln und kunterbunten Acrylfarben. In einem anderen Raum war offenbar der Musikunterricht im Gange, mit Tamburinen, Becken und zwei Xylophonen. Und dabei roch es überall nach Zigaretten. Vera hatte sich nie groß darum gekümmert, wenn andere Leute sich mit aller Gewalt umbringen wollten, doch dieser Qualm brannte ihr in Kehle und Lungen, und sie wusste, sie würde sich anschließend umziehen müssen, um den Gestank wieder loszuwerden. Um zum Zimmer des Sozialarbeiters zu gelangen, musste sie den Gemeinschaftsraum durchqueren. Die Sessel dort waren zu kleinen Sitzgruppen zusammengestellt, doch keiner schien darauf erpicht, auch nur ein Wort mit jemand anderem zu wechseln. Und alle qualmten. Eine magere Frau redete die ganze Zeit leise vor sich hin, irgendeine langwierige Geschichte um ihre Miete und die Stadtverwaltung, die sie ständig bedrängte. Die anderen Anwesenden schenkten ihr keine Beachtung.
Craven hatte ein kleines Büro am Ende eines langen Flurs. Die Tür stand offen, und Vera sah ihn schon, bevor er sie bemerkte. Er saß am Schreibtisch und hämmerte mit einer Geschwindigkeit, von der Vera nur träumen konnte, auf die Tastatur seines
Weitere Kostenlose Bücher