Totenblüte
Moment fiel ihr die Mülltüte wieder ein, und sie kehrte noch einmal um, um sie zu holen.
Während sie ihren Kaffee trank, dachte sie an Samuel, seinen schlanken Rücken, an dem man jeden Wirbel spürte. Jetzt führe ich mich schon wieder auf wie ein junges Mädchen, dachte sie. Es wird langsam Zeit, dass ich erwachsenwerde. Trotzdem lächelte sie dabei vor sich hin. Dann ging sie ins Gartenhaus zurück und schloss die Fenster wieder, zog die Toilette ab, um das Putzmittel wegzuspülen, fegte den Staub auf die Schaufel und leerte sie in die Mülltüte. Da sah sie plötzlich etwas glitzern. Sie legte die Schaufel ab, bückte sich und fischte den Gegenstand heraus. Ein Ring. Ein auffallend schöner Ring. Ein blau-grüner Stein in einer ovalen Fassung aus Silber. Jugendstil. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich, dachte sie, gehört er einem der Mädchen. Joanna vermutlich. Das war genau ihr Stil. Wie hatte sie nur so unachtsam sein und nicht merken können, dass sie ihn verloren hatte.
Erst als sie wieder im Haus war, im Korbsessel im Schlafzimmer saß und sich darauf einstimmte, Samuel noch einmal anzurufen, fiel ihr wieder ein, wo sie diesen Ring schon gesehen hatte. An Lily Marshs Finger. Der Ring war Felicity aufgefallen, als Lily James beim Aussteigen aus dem Bus den Geigenkoffer abgenommen hatte. Schon da hatte sie die junge Frau insgeheim darum beneidet. Wahrscheinlich war er ihr ein wenig zu groß gewesen und ihr während der Hausführung einfach vom Finger gerutscht. Felicity legte den Ring aufs Bett, wo er auf dem dicken weißen Baumwollstoff der Tagesdecke ganz wunderbar zur Geltung kam. Sie war in Versuchung, ihn einfach zu behalten. Probeweise streifte sie ihn auf den Mittelfinger. Er passte wie angegossen. Wer sollte das je erfahren? Seit der Geschichte mit Samuel erschienen ihr alle möglichen Missetaten in greifbarere Nähe gerückt. Sie genoss den Gedanken, etwas völlig Untypisches zu tun, womit sie den Erwartungen sämtlicher Freunde und Verwandten widersprach, die sie als durch und durch guten Menschen beschrieben hätten. Mit dem Ring am Finger wählte sie Samuels Nummer. Diesmal nahm er sofort ab.
«Parr.»
«Ich bin es, Felicity. Ich wollte zurückrufen.» Sie meldete sich immer mit Namen, obwohl sie sicher war, dass er sie an der Stimme erkannte. Selbst wenn sie keiner belauschte, hielten sie doch immer die Illusion aufrecht, einfach nur Freunde zu sein. Bis sie dann allein in seinem Haus waren.
«Schön, dass du dich meldest.» Er schwieg einen Moment. «Geht es dir gut?»
«Ganz gut», sagte sie. «Soweit …»
«Und James?»
«Ja, alles in Ordnung.»
«Ich hatte mich gefragt, ob du nochmal was von der Polizei gehört hast.»
«Sie haben wohl gestern bei Peter im Büro vorbeigeschaut.»
«Die Polizistin war auch bei mir. Zu Hause.» Felicity verspürte einen plötzlichen Widerwillen. Ihr missfiel die Vorstellung, dass sich diese fette, hässliche Frau zwischen Samuels wunderschönen Möbeln bewegte. «Ich bin mir nicht ganz sicher», fuhr er fort, «was sie eigentlich von mir wollte.»
Felicity wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und so erzählte sie Samuel plötzlich, ohne Zusammenhang, von ihrer Entdeckung. «Ich habe gerade einen Ring von Lily Marsh gefunden. Er lag im Gartenhaus. Wahrscheinlich hat sie ihn verloren, als ich sie dort herumgeführt habe.»
«Hast du der Polizei davon erzählt?» Die Dringlichkeit in seiner Stimme überraschte sie.
«Nein, bis jetzt noch nicht.» Ihr Tonfall sollte ein wenig kokett und spielerisch klingen. «Er ist wirklich richtig schön.»
«Du wirst ihn doch nicht etwa behalten wollen?» Samuelklang schockiert. «Du musst das melden. Sofort. Wenn du es nicht machst, glauben sie noch, du hast etwas zu verbergen.»
«So wichtig kann das doch nicht sein. Sie wissen doch schon, dass sie hier im Gartenhaus war.»
«Trotzdem», sagte Samuel. «Sie werden den Ring als wichtiges Beweisstück betrachten.»
«Schon gut. Ich habe ja nur Spaß gemacht.» Manchmal, dachte sie, war er schon ein großer Moralprediger.
«Es geht mir doch nur um dich.» So etwas Intimes sagte er sonst nie am Telefon, und es rührte sie ungemein. «Bitte ruf Inspector Stanhope an. Jetzt gleich.»
«Ja, gut.»
«Versprochen?»
«Ja», sagte Felicity. «Versprochen.» Dann setzte sie noch hinzu: «Hast du heute Nachmittag Zeit?»
«Nein, ich muss zu einer Besprechung.» Sie konnte nicht sagen, ob das stimmte oder ob es ihn nur immer noch nervös
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