Totenbuch
er steht auf und betrachtet seine Nacktheit im Spiegel
über dem glatten Waschbecken aus Marmor -, »ich muss es tun, weil du so
leidest. Eigentlich will ich das ja gar nicht. Du hast mir wehgetan. Ist dir
klar, wie sehr es mich quält, von dir dazu gezwungen zu werden?«, sagt sein
nacktes Spiegelbild.
Sie sagt, sie habe verstanden. Ihre Augen irren
durch den Raum wie fliegende Glasscherben, als er den Werkzeugkasten öffnet und
ihr Blick auf die Teppichcutter, Messer und Sägen fällt. Er nimmt einen kleinen
Beutel mit Sand heraus und stellt ihn auf den Waschbeckenrand. Es folgen
einige Ampullen mit lavendelfarbenem Klebstoff.
»Ich mache alles, was du willst. Du kannst von mir
haben, was du willst.« Jetzt fängt sie schon wieder damit an.
Sie kann es einfach nicht lassen, obwohl er es ihr
streng verboten hat.
Als seine Hände ins Wasser tauchen, spürt er die
beißende Kälte. Er packt ihre nassen, sonnengebräunten Knöchel, reißt sie hoch
und umklammert ihre kalten weißen Füße. Dabei spürt er, wie sich vor Angst ihre
Muskeln verkrampfen. Als er sie so ein bisschen länger festhält als beim
letzten Mal, sträubt sie sich und rudert wild mit den Armen. Das eisige Wasser
spritzt umher. Schließlich lässt er los. Sie hustet, schnappt gierig nach Luft,
wimmert leise. Aber sie beschwert sich nicht. Sie hat gelernt, sich nicht zu
beschweren - es hat eine Zeitlang gedauert, aber sie hat es gelernt. Das war
nur zu ihrem Besten, denn nun ist sie dankbar dafür, ein Opfer zu bringen, das
sein Leben - nicht ihres, seines - verändern wird. Wenn auch nicht zum Guten.
Aber er hatte ja nie ein gutes Leben. Wird auch nie eines haben. Sie sollte
sich über dieses Geschenk freuen.
Er kippt den letzten Rest Eiswürfel aus dem
Müllbeutel, den er an der Eismaschine der Hausbar nachgefüllt hat, in die
Wanne. Da sieht sie ihn an, und Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. Trauer.
Am Rande des Abgrunds.
»Drüben haben wir sie an der Decke aufgehängt«, sagt
er. »Und sie immer wieder seitlich gegen die Knie getreten. So war es eben
üblich, drüben. Wir sind alle rein in das kleine Zimmer, und dann haben wir
ihnen gegen die Knie getreten. Das ist extrem schmerzhaft und macht sie
natürlich zu Krüppeln. Einige sind auch gestorben. Doch das ist nichts,
verglichen mit den anderen Dingen, die ich dort gesehen habe. Ich habe zwar
nicht in dem Gefängnis gearbeitet, über das alle reden. Aber so ähnlich ging
es praktisch überall zu. Die Leute kapieren nur nicht, dass es gar nicht so
dumm war, das alles zu filmen und zu fotografieren. Die einzige Möglichkeit,
es musste einfach sein. Anderenfalls käme es einem so vor, als wäre es nie
geschehen. Man muss Fotos machen, damit man es zeigen kann. Wenn nur ein
einziger Mensch das Foto sieht, weiß es die Welt.«
Sie wirft einen Blick auf die Kamera, die auf dem
Tisch mit der Marmorplatte an der verputzten Wand steht.
»Sie hatten es doch verdient, oder?«, sagt er.
»Schließlich haben sie uns gezwungen, anders zu sein, als wir eigentlich sind.
Wen trifft also die Schuld? Uns jedenfalls nicht.«
Sie nickt. Sie zittert, und ihre Zähne klappern.
»Ich habe nicht immer mitgemacht«, sagt er. »Ich
habe zugeschaut. Anfangs war es nicht leicht, vielleicht sogar eine Quälerei,
und außerdem war ich dagegen. Aber die Dinge, die sie uns angetan haben ... Da
konnten wir doch gar nicht anders, als uns zu revanchieren. Deshalb haben sie
es sich selbst zuzuschreiben. Sie haben uns ja dazu gezwungen. Ich bin sicher,
dass du das auch so siehst.« Sie nickt und weint und zittert.
»Die Minen. Die Entführungen. Die meisten Sachen
erfährt man hier gar nicht. Irgendwann gewöhnt man sich daran, so wie du dich
an das kalte Wasser gewöhnst. Richtig?«
Sie hat sich nicht daran gewöhnt. Ihr Körper ist nur
gefühllos geworden. Über kurz oder lang wird sie erfrieren. Inzwischen pocht
ihr der Schädel, und ihr Herz klopft zum Zerspringen. Er reicht ihr den Wodka,
und sie trinkt.
»Ich mache jetzt das Fenster auf«, sagt er. »Damit
du Berninis Brunnen hörst. Das Geräusch begleitet mich schon mein halbes Leben.
Eine wunderschöne Nacht. Schade, dass du die Sterne nicht sehen kannst.« Er
öffnet das Fenster und betrachtet die Nacht, die Sterne, den
Vier-Ströme-Brunnen und die um diese Zeit menschenleere piazza. »Du wirst
nicht schreien«, sagt er.
Sie schüttelt den Kopf. Ihre Brust hebt und senkt
sich, und sie zittert am ganzen Körper.
»Ich weiß, dass du an deine Freundinnen
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