Totenbuch
nachts einen Leichenwagen in einer Seitengasse beobachtet,
geht man doch normalerweise davon aus, dass jemand gestorben ist, wird
neugierig und fragt sich, ob es vielleicht jemand ist, den man kennt. Vor Gericht
wird sie sicher keinen Spaß haben.«
»Das werden wir alle nicht.«
»Nun, sie wird wohl am
schlechtesten wegkommen«, sagt Bull, hebt den Löffel an die Lippen, ist aber zu
höflich, um beim Sprechen zu essen. »Sie glaubt, sie wäre klüger als der Richter.
Für diese Vorstellung hätte ich gern Karten. Als ich vor ein paar Jahren in
diesem Garten hier gearbeitet habe, habe ich gesehen, wie sie einen Eimer
Wasser über eine Katze geschüttet hat. Die Katze hatte sich unter ihrem Haus
versteckt, weil sie gerade Junge bekommen hatte.«
»Sagen Sie nichts mehr, Bull.
Ich kann es nicht mehr hören.«
Scarpetta geht die Treppe hinauf
und durch das Schlafzimmer zu dem kleinen Balkon, der Blick auf den Garten hat.
Benton telefoniert gerade. Vermutlich tut er das schon die ganze Zeit. Er hat
eine Khakihose und ein Polohemd angezogen, riecht frisch geduscht und hat
feuchtes Haar. Hinter ihm erhebt sich ein Gerüst aus Kupferrohren, das
Scarpetta gebaut hat, damit die Passionsblumen wie Liebhaber zu ihrem Fenster
hinaufklettern können. Unter ihnen befinden sich die gepflasterte Terrasse und
der flache Teich, den sie immer wieder mit Hilfe eines alten löchrigen
Gartenschlauchs volllaufen lässt. Je nach Jahreszeit ist ihr Garten eine
Farbsymphonie. Rankmyrten, Kamelien, Blumenrohr, Lilien, Hyazinthen, Hortensien,
Osterglocken und Dahlien. Sie kann gar nicht genug von Klebsamen und Seidelbast
bekommen, so sehr liebt sie alles, was gut duftet.
Die Sonne scheint. Plötzlich ist
Scarpetta so müde, dass ihr alles vor Augen verschwimmt.
»Das war der Capitano«, meldet
Benton und legt das Telefon auf die Glasplatte des Tisches.
»Hast du Hunger? Oder möchtest
du einen Tee?«, fragt sie.
»Soll ich nicht besser dir etwas
holen?«, entgegnet Benton.
»Nimm die Sonnenbrille ab, damit
ich deine Augen sehen kann«, fordert sie ihn auf. »Ich habe keine Lust, mir
deine dunkle Brille anzuschauen. Ich bin so müde. Keine Ahnung, warum ich so
müde bin. Früher habe ich nicht so schnell schlappgemacht.«
Er nimmt die Brille ab, klappt
sie zusammen und legt sie ebenfalls auf den Tisch. »Paolo ist von seinem
Posten zurückgetreten und bleibt in Italien. Ich glaube, er wird ungeschoren
davonkommen. Der Direktor des Krankenhauses will alles unter den Teppich
kehren, denn unsere Freundin Dr. Seif ist gerade in der Howard Stern Show aufgetreten und hat vor laufenden
Kameras behauptet, dass bei uns Experimente wie in Mary Shelleys Frankenstein stattfinden. Schade, dass Stern sie
nicht gefragt hat, ob ihr großer Busen auch echt ist. Ach, vergiss es, sie
hätte wahrscheinlich auch noch die Dinger in die Kamera gehalten.«
»Von Marino gibt es vermutlich
nichts Neues.«
»Hab Geduld, Kay. Ich gebe dir
keine Schuld an dem, was passiert ist. Wir werden das überstehen. Ich möchte
dich wieder anfassen können, ohne dabei an ihn zu denken. So, jetzt ist es
heraus. Es macht mir ziemlich zu schaffen.« Er greift nach ihrer Hand. »Weil
ich das Gefühl habe, mitverantwortlich zu sein. Vielleicht sogar mehr als das.
Wenn ich da gewesen wäre, wäre das alles nie geschehen. Und deshalb werde ich
das ändern, natürlich vorausgesetzt, du willst es auch.«
»Selbstverständlich will ich.«
»Mir wäre es am liebsten, wenn
Marino sich nie wieder blicken lassen würde«, fährt Benton fort. »Allerdings
wünsche ich ihm kein Unglück und hoffe, dass ihm nichts zugestoßen ist.
Außerdem versuche ich, Verständnis dafür aufzubringen, dass du ihn in Schutz
nimmst und dir Sorgen um ihn machst. Dass er dir noch immer etwas bedeutet.«
»Der Spezialist für
Pflanzenkrankheiten kommt in einer Stunde. Wir haben Spinnmilben.«
»Und ich dachte, es wären nur
einfache Kopfschmerzen.«
»Falls ihm etwas passiert ist
oder er sich etwas angetan hat, werde ich mir das nie verzeihen«, sagt
Scarpetta. »Vielleicht ist es mein größter Fehler, dass ich zu viel Nachsicht
mit den Menschen habe, die mir wichtig sind. Dabei nehme ich in Kauf, dass sie
immer wieder dieselben Fehler machen. Bitte, finde ihn.«
»Alle suchen nach ihm, Kay.«
In dem langen Schweigen, das
folgt, ist nur Vogelgezwitscher zu hören. Bull kommt in den Garten und fängt
an, den Schlauch auszurollen.
»Ich muss unter die Dusche«,
verkündet Scarpetta. »Ich fühle mich
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