Totenbuch
denkst. Sie
denken ganz bestimmt auch an dich. Ein Jammer, dass sie nicht bei dir sind.
Nirgendwo eine Spur von ihnen.« Wieder lässt er den Blick über die verlassene piazza schweifen
und zuckt die Achseln. »Sie sind weg. Schon lange.«
Ihre Nase läuft, und Tränen fließen ihr über die
Wangen. Ihr Körper bebt. Ihre Augen sind so anders als früher, und er nimmt ihr
übel, dass sie sich so zu ihrem Nachteil verändert hat. Ganz zu Anfang hat er
italienisch mit ihr gesprochen, da er sich so in den Fremden verwandeln konnte,
der er sein musste. Nun spricht er englisch, denn es spielt keine Rolle mehr.
Ihr Blick streift seine Erregung, und er spürt, wie ihr Blick auf sie prallt
wie Motten auf eine Lichtquelle. Er fühlt es ganz deutlich. Sie fürchtet sich
davor - allerdings nicht so sehr wie vor seinen Werkzeugen, dem Wasser, dem
Sand und dem Klebstoff. Sie achtet nicht auf den breiten schwarzen Gürtel, der
zusammengerollt auf dem antiken Fliesenboden liegt. Und den sollte sie am
allermeisten fürchten.
Er nimmt den Gürtel und erklärt ihr, wehrlose
Menschen zu schlagen sei ein angeborener Trieb. Und warum? Sie
antwortet nicht. Warum? Sie starrt ihn verängstigt an. Ihr Blick ist stumpf, aber
gleichzeitig panisch, und es ist, als ginge ein Spiegel vor ihm in Scherben.
Als er ihr befiehlt aufzustehen, gehorcht sie zitternd. Sie kann sich kaum noch
auf den Beinen halten. Sobald sie aufrecht im eiskalten Wasser steht, dreht er
den Hahn ganz zu. Ihr geschmeidiger, durchtrainierter Körper erinnert ihn an
einen Bogen mit gespannter Sehne. Wassertropfen perlen auf ihrer Haut.
»Dreh dich um«, sagt er. »Keine Sorge, ich schlage
dich nicht mit dem Gürtel. So etwas tue ich nicht.«
Leise schwappt das Wasser in der Wanne, während sie
ihm den Rücken zukehrt. Jetzt richtet sich ihr Blick auf den rissigen Putz an
der Wand und einen geschlossenen Fensterladen.
»Nun knie dich ins Wasser«, sagt er. »Schau auf die
Wand. Nicht auf mich.«
Sie kniet sich mit dem Gesicht zur Wand hin. Er
nimmt den Gürtel und zieht das Ende durch die Schnalle.
1
Zehn Tage später. 27. April 2007. Ein
Freitagnachmittag.
Zwölf der einflussreichsten Gesetzeshüter und
Politiker Italiens, deren Namen sich die forensische Pathologin Kay Scarpetta
beim besten Willen nicht merken kann, haben sich im Vorführsaal versammelt.
Sie und Benton Wesley, Psychologe mit Fachgebiet Kriminalistik, sind die
einzigen Nichtitaliener im Raum und in ihrer Funktion als Berater im Auftrag
von International Investigative Response (HR) hier, einer Unterabteilung des
European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI). Die italienische
Regierung befindet sich in einer ziemlich heiklen Lage.
Vor neun Tagen ist die amerikanische Tennisspielerin
Drew Martin während einer Urlaubsreise Opfer eines Mordes geworden. Ihre
nackte, verstümmelte Leiche wurde unweit der Piazza Navona in der historischen
Altstadt von Rom aufgefunden. Der Fall hat international Wellen geschlagen.
Sämtliche Fernsehsender bringen unablässig Berichte über das Leben und den Tod
der Sechzehnjährigen, während am unteren Bildschirmrand beharrlich Tickermeldungen
vorbeikriechen, die die Aussagen der Nachrichtensprecher und Experten
wiederholen.
»Also, Dr. Scarpetta, stellen wir es noch einmal
klar, da offenbar in einigen Punkten weiter Verwirrung herrscht. Ihrer
Auffassung nach ist der Tod zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr eingetreten«,
beginnt Capitano Ottorino Poma, medico
legale in der Arma dei Carabinieri, der Militärpolizei, die die Ermittlungen leitet.
»Das habe nicht ich festgestellt«,
erwidert Scarpetta mit kaum verhohlener Ungeduld, »sondern Sie.«
Trotz der dämmrigen Beleuchtung ist seine unwillige
Miene nicht zu übersehen. »Ich bin sicher, dass Sie das gesagt haben, als Sie
vor wenigen Minuten über den Mageninhalt und die Blutalkoholwerte des Opfers
sprachen. Denn die wiesen Ihrer Ansicht nach darauf hin, dass die Ermordete,
wenige Stunden nachdem ihre Freundinnen sie zuletzt gesehen hatten, starb.«
»Ich habe nicht behauptet, dass der Tod zwischen
vierzehn und fünfzehn Uhr eintrat. Mein Eindruck ist eher, dass Sie es sind,
der das ständig wiederholt, Capitano Poma.«
Obwohl er noch verhältnismäßig jung ist, genießt er
bereits einen gewissen Ruf, wenn auch nicht den allerbesten. Als Scarpetta ihn
vor zwei Jahren bei der Jahresversammlung von ENFSI in Den Haag kennengelernt
hat, war er bei allen unter dem Spitznamen Designer-Doktor bekannt
Weitere Kostenlose Bücher